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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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eher meine Eltern. Aber du kannst ja mal hinfahren und es dir angucken, wenn du Zeit hast!«
    Wenn ich Zeit habe! Weihnachten in Pingyao ist noch zehn Tage und zweihundertfünfzig Kilometer entfernt …
    Nach einer halsbrecherischen Fahrt im Auto des Kleinen Yang kommen wir an einem mächtigen, dicht mit bunten Lämpchen behängten Tor an. Um uns herum nichts als graue Berglandschaft. Das also ist Dazhai – die »Große Palisade«. Mein Blick fällt auf das rote Spruchband: UNTER DER GROSSARTIGEN FAHNE DES SOZIALISMUS CHINESISCHER PRÄGUNG MUTIG VORAN!, steht da in riesigen Schriftzeichen, und darunter ist eine Gravur, die erklärt, dass die Bevölkerung von Dazhai ihre Gäste willkommen heiße.
    Damit sind wohl wir vier gemeint: Die beiden Brüder Yang haben noch einen Freund mitgebracht, der mir mit seiner Glatzeund der mächtigen, in einem blauen Jogginganzug steckenden Wampe auf Anhieb sympathisch ist. Irgendwie erinnert er mich an meinen Vermieter in Beijing.
    »Willkommen in Dazhai!«, sagt der Kleine Yang feierlich und zeigt auf das Tor.
    Drinnen bekommen wir eine Fremdenführerin zugeteilt, deren Vortrag ich mir mithilfe meiner Erinnerungen an den Geschichtskurs an der Universität ergänzen muss: Dazhai, das war ursprünglich ein bitterarmes Bergdorf, in dem sich die Bauern kaum vom Ertrag ihrer Äcker ernähren konnten. Kurz nach der Gründung der Volksrepublik wurde jedoch ein einfacher Landarbeiter namens Chen Yonggui zum örtlichen Parteisekretär und ließ alle Dorfbewohner gemeinsam anpacken, um die Berge zu terrassieren und Bewässerungssysteme anzulegen. In der Folge blühte die Gemeinde auf, und zwar so sehr, dass sogar die politische Führung in Beijing davon erfuhr. Der Große Vorsitzende Mao Zedong war entzückt: Hier sah man also endlich ein Beispiel dafür, dass die von ihm vorgegebenen Kollektivierungsmaßnahmen auch Früchte tragen konnten, anstatt nur Tod und Verderben zu bringen, wie dies im Rest des Landes geschehen war.
    Ende der Fünfzigerjahre, als die Erste und die Zweite Welt damit beschäftigt waren, blitzende Raketen ins All zu schießen und einander immer gigantischere Atomwaffenexplosionen vorzuführen, schraubte China im Verborgenen an seiner eigenen Kernwaffe herum. Und um Arbeitsenergie für die dazu notwendige industrielle Entwicklung freisetzen zu können, hatte Mao Zedong den »Großen Sprung nach vorn« verkündet, der die Landwirtschaft vereinheitlichte, aber leider auch eine Hungersnot von bis dahin ungekannten Ausmaßen verursachte, der Abermillionen chinesischer Bauern zum Opfer fielen. 1964 konnte die Volksrepublik zwar endlich zufrieden auf ihre eigene Bombe blicken, aber der Ausdruck »Baumrinde essen« ist bis heute im ganzen Land bekannt geblieben.
    Man kann sich also die Freude vorstellen, die damals durch die Nachricht von Chen Yongguis Erfolgen ausgelöst wurde. Dazhaiwurde noch im Jahr 1964 zur »Mustergemeinde« ernannt, und der Spruch »Lernen von Dazhai« war in aller Munde. Bald kamen selbst die höchsten Kader in das kleine Bergdorf, und der Bauer Chen Yonggui, der grundsätzlich überall mit einem um den Kopf gewickelten Handtuch auftrat, als ob er gerade frisch von der Feldarbeit käme, stieg in der Parteihierarchie immer weiter auf, bis er 1975 sogar in den Rang eines Vizepremiers der Volksrepublik China erhoben wurde.
    Wenige Jahre später jedoch wendete sich sein Glück, denn nachdem Mao Zedongs Tod im Herbst 1976 neben einer einbalsamierten Leiche auch einen kolossalen Streit um die Nachfolge hinterlassen hatte, konnte Deng Xiaoping im Jahr 1979 die Zügel an sich reißen. Und dieser Reformer hielt nicht viel vom sozialistischen Prinzip der Kollektivierung. 1982 wurde Bauer Chen seiner Ämter enthoben, und auf einmal hieß es, Dazhai habe seinen Erfolg gar nicht selbst erwirtschaftet, sondern sei dabei von der Regierung unterstützt worden, um einen Modellfall zu schaffen. Diese Version der Geschichte wurde erst in den letzten Jahren wieder etwas revidiert.
    »Und was machen die Menschen von Dazhai heute?«, frage ich, denn der ganze Ort sieht geradezu verlassen aus. Wir stehen auf einem weitläufigen Platz, an dessen Seite zwei ältere Damen hinter Klappstühlen sitzen und Souvenirs zum Kauf anbieten. Das meiste davon sind fette orangefarbene Stoffkatzen.
    »Wir haben Tourismus«, sagt die Fremdenführerin, »und außerdem gibt es eine Schnapsfabrik.«
    Der dicke Freund der Yang-Brüder kommt mit hocherfreutem Gesichtsausdruck aus einem der Häuser

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