The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
ich brauche einen Moment, um meine Erinnerungen aus dem Studium zu sortieren. »Im Westen ist die Geschichte eine Linie, und im Osten versteht man sie wie einen Kreis. Eine Dynastie folgt auf die andere, und alles wiederholt sich immer wieder …«
»Und deshalb reißen die chinesischen Politiker alle alten Gebäude ab?«
»Na ja, wenn man sich die Geschichte als Kreis vorstellt, ist es dann wirklich noch wichtig, ob die Steine nun alt sind oder nicht?«
Juli lacht spöttisch. »Also, ich glaube nicht, dass die Leute solche philosophischen Überlegungen anstellen, bevor sie ihre alten Bauwerke abreißen! Außerdem liegt das Problem auch eher darin, dass in China alles nur deshalb gebaut wird, um schnell etwas Geld damit zu verdienen!«
Mit einem hat sie auf jeden Fall recht: Ein großer Teil der Zerstörungen in China ist hausgemacht.
Als ich am nächsten Tag auf einer elegant geschwungenen Zierbrücke vor dem Familienanwesen der Changs ankommeund staunend innehalte, weiß ich noch nicht, dass auch dies nur noch der kümmerliche Rest dessen ist, was die Zerstörungen des zwanzigsten Jahrhunderts von der einstigen Pracht übrig gelassen haben. Es ist immer noch überaus eindrucksvoll: Über Hunderte von Metern erstrecken sich die massiven, zinnenbewehrten Mauern, in deren Mitte ein Glockenturm mit einem Eingangstor steht. Das Ganze erinnert entfernt an die Verbotene Stadt in Beijing.
»Und das gehörte alles EINER Familie??«, frage ich meine Fremdenführerin, als wir durch das Tor treten.
»Ja, natürlich«, sagt sie stolz, »hier bei uns gab es früher sehr viele vermögende Leute. Die Händlerprovinz Shanxi war lange Zeit die reichste Gegend ganz Chinas!«
»Und die Wiege der chinesischen Zivilisation!«, wiederhole ich die Worte des Teigtaschen mampfenden Mannes in Shijiazhuang, und als ich sehe, dass sie sich darüber freut, probiere ich auch noch den dazugehörigen Spruch, komme jedoch sofort heillos durcheinander. »Das China der letzten dreißig Jahre findest du in … äh … Shanghai … und das der letzten hundert … nein, fünfhundert … oder eher tausend … findest du in … Beijing?«
Plaudernd spazieren wir durch das Familienanwesen der Changs, das mit seinem Netz aus Straßen und Häusern, seinen Parks und Hügeln und Seen mehr von einer Stadt hat als von einem Privatwohnsitz. Diese Leute müssen unvorstellbar reich gewesen sein – es gibt sogar noch die konfuzianische Ahnenhalle, in dem sie dem Gründervater der Familie einen Schrein mit einer Bronzefigur haben errichten lassen.
»Wundert mich, dass man das in der Kulturrevolution so hat stehen lassen«, murmele ich, als wir im Dämmerlicht vor der Statue stehen.
»Hey, du kennst dich wirklich aus!«, lobt mich die Fremdenführerin. »Aber das hier ist natürlich nur eine Nachbildung der Statue.«
»Das Original ist in einem Museum?«
»Zerstört. Von dem ursprünglichen Anwesen hier wurde fastalles zerstört. Das, was wir heute sehen können, ist nicht einmal mehr ein Viertel!«
Ein Viertel??
»Kaum zu glauben, oder?« In ihrer Stimme schwingt eine seltsame Mischung aus Betroffenheit und Stolz mit. »Erst der Widerstand gegen die Japaner, dann die Kulturrevolution und schließlich die Baumaßnahmen der Achtzigerjahre.«
Sie seufzt, und eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her.
Dann fällt mir noch etwas ein. »Und die Angehörigen der Familie Chang? Wo sind die jetzt?«
Ihre Antwort klingt unbestimmt, als würde sie zum ersten Mal über diese Frage nachdenken. »Die meisten wohnen wohl im Ausland.«
Ich verlasse das Anwesen durch einen Nebenausgang, zwänge mich an einer Herde Schafe vorbei und bin bald auf einem matschigen Landweg in Richtung Süden. Als ich durch ein kleines Dorf komme, fällt mir aus dem Augenwinkel ein dunkelrotes Schimmern auf. Begeistert hole ich meine Kamera hervor und trete näher: ein gigantischer Berg Chilischoten! Ich muss an Juli denken. Wie alle Leute aus ihrer Heimatprovinz Sichuan hat sie eine Leidenschaft für scharfes Essen und kichert nur über Schwächlinge wie mich, die bereits jammernd nach Luft hecheln, wenn es für sie erst richtig lecker wird.
Zwei Männer sind damit beschäftigt, die Chilis zusammenzuschaufeln und in große Säcke zu verpacken. Sie lachen, als ich frage, ob ich ein Foto machen darf. Sofort wirft der Ältere seine Schaufel auf den Haufen und stellt sich mit einer Schote in der Hand in Positur: Sie ist dick und fett und leuchtet aggressiv. Juli würde sie
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