The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
lieben!, denke ich.
»Möchtest du welche mitnehmen?«, fragt er und zeigt auf den Haufen.
»Nein danke! Ich bin zu Fuß unterwegs und kann nicht viel tragen.«
»Aber die wiegen doch gar nichts.«
»Genau, nimm einfach ein paar mit!«, bekräftigt sein Kumpel.
»Aber was soll ich denn damit? Ich habe unterwegs ja doch keine Kochgelegenheit.«
»Du gibst sie einfach ins Essen, wenn es dir zu langweilig schmeckt.«
Die beiden lassen nicht locker, und schließlich überwinde ich mich und komme mit der beschämenden Wahrheit heraus: »Die sind mir zu scharf!«
»Zu scharf?«, wiederholt er und beäugt amüsiert die Chili in seiner Hand. »Die sind doch gar nicht so scharf.«
»Moment mal«, ruft sein Kumpel. »Ausländer vertragen unsere Gewürze nicht! Das habe ich mal im Fernsehen gesehen.«
Es wird ein lustiges Gespräch. Als ich den beiden erzähle, wo Juli herkommt, lachen sie sich fast tot: aus Sichuan – na, da hätte ich mir ja genau die Richtige ausgesucht! Ob sie mich schon den Eltern vorgestellt habe?
»Ich war schon einmal da, aber nur als Bekannter.«
»Na, dann sieh dich vor!«, sagt der Ältere und macht ein Gesicht, als würde er eine Räuberpistole erzählen. »Wenn sie dich als ihren Freund vorstellt, dann musst du nicht nur scharf essen, sondern auch Unmengen von Alkohol trinken – da hilft alles nichts!«
Sein Kumpel grinst.
Ich zeige auf das altertümlich wirkende Gebäude am anderen Ende des Hofes. »Sagt mal, was ist das da eigentlich?«
Die beiden gucken verwundert.
»Das war früher einmal ein Tempel«, sagt der Ältere schließlich, »aber jetzt ist es nur noch ein Lagerhaus.«
Als ich durch ein Fenster in das Halbdunkel des Gebäudes blicke, muss ich an die Zerstörungen in Yuci und im Anwesen der Changs denken: Überall türmen sich riesige Haufen von Baumaterialien, und nur die Säulen und die verblassenden Umrisse von Malereien an den Wänden künden noch von einer Zeit, als hier einmal Räucherstäbchen verbrannt und Sutren rezitiert wurden.
»Warum ist das jetzt eine Lagerhalle?«, frage ich.
»Das waren die Sechzigerjahre«, murmelt der Ältere. Die Kulturrevolution also.
Bei näherem Hinsehen fällt mir im hinteren Bereich des Raumes etwas Buntes auf: Jemand hat einen Tisch aufgestellt, ein Stück rotes Tuch darübergelegt und eine Buddhastatue darauf platziert. Sie sieht geradezu verschwindend klein aus zwischen den Bergen von Rigipsplatten, Abdeckplanen und Pappkartons. Und doch: Es ist ihr Tempel, und mit ein bisschen Phantasie kann man sich vorstellen, wie sie ihn mit der Zeit wieder zurückerobern wird.
Meine beiden Begleiter gucken ein bisschen ratlos.
Ich winke ab und erkläre, dass ich jetzt eilig weitermüsse, da ich noch bis zum Weihnachtstag Pingyao erreichen wolle, um dort Juli zu treffen.
Der Ältere lacht erleichtert. »Die Freundin aus Sichuan? Das ist natürlich wichtiger als alles andere!«
SO GUT WIE
Julis Augen sind geschlossen, sie atmet sanft, und die Bettwäsche leuchtet in strahlendem Weiß. Das Bettgestell ist eine Antiquität aus der Zeit der Qing-Dynastie, genau wie der Schrank, der Tisch, die Stühle und selbst noch die schwere Kommode. Zu beiden Seiten der Fenster hängen Samtvorhänge in mächtigen Falten herab. Heute ist der vierundzwanzigste Dezember, meine Familie singt in der Eifel ungarische Weihnachtslieder ohne mich, und ich bin in einem Viersternehotel in Pingyao, fünfundvierzig Tage und siebenhundert Kilometer von Beijing entfernt. Heute ist Montag, aber die Wochentage spielen schon lange keine Rolle mehr.
Juli ist endlich bei mir.
Vor ein paar Stunden kam eine schwarze Limousine in die Hoteleinfahrt gebraust, die Tür flog auf, und im nächsten Moment hatte ich eine lachende kleine Chinesin im Arm, die mir auf die Brust trommelte und »Aufhören, aufhören – mir wird schwindlig, AUFHÖREN!!« rief, während ich sie im Kreis herumwirbelte.
»Ich wäre auch einfach mit dem Zug vom Flughafen hierhergekommen«, flüsterte sie mir auf dem Weg in die Eingangshalle ins Ohr, »aber du kennst ja meinen Vater: Er musste unbedingt noch einen eigenen Fahrer für mich organisieren!«
Jetzt schläft sie, während aus dem Hotelflur gedämpft eine chinesische Version von »Jingle Bells« hereindringt und ich die Fotos der letzten Tage sortiere: Da ist der Ort Taigu mit der berühmten weißen Pagode, die mir einen kleinen Wutanfall entlockte, weil sie die Frechheit besaß, mittags geschlossen zu sein. Warum ich nicht einfach erst
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