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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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gelaufen. In der Hand hält er eine glänzende Statue, die er immer wieder liebevoll betrachtet: Es ist ein Mao Zedong, etwa so groß wie eine Schnapsflasche, der aufrecht mit auf dem Rücken verschränkten Armen und kühn nach vorn gerichtetem Blick dasteht, während sein Mantel im Gegenwind zu flattern scheint. Auf dem Podest steht: GROSSARTIGE PERSÖNLICHKEIT DER GESCHICHTE.
    Ich muss an das Wort »Baumrinde essen« denken, sage aber nichts.
    Dann schauen wir uns noch einen mit blauem Samt bespannten Stuhl an, in dessen Mitte ein verräterisches Loch auf einen bestimmten Zweck hindeutet. Auf meinen fragenden Blick hin wird mir mitgeteilt, dass dies die Toilette von Jiang Qing sei – Mao Zedongs erster Ehefrau. Einen Moment lang bin ich sprachlos.
    »Die große Imperialistenhasserin, die sogar für die Kulturrevolution verantwortlich gemacht wird, bestand wirklich auf einem Klositz aus Samt ?«
    Doch statt einer Antwort lächelt die Fremdenführerin nur und deutet zur Tür – Zeit, das nächste Ausstellungsstück zu besichtigen!

HAUSGEMACHT
    Innerhalb der nächsten drei Tage komme ich fast einhundert Kilometer näher an Pingyao heran. Die Straße zieht sich in großzügigen Windungen durch das Bergland, manchmal werde ich von Hunden verfolgt. Als ich irgendwann die Lichter des Ortes Yuci in der Ferne leuchten sehe, ist es zwar erst sechs Uhr abends, aber der Himmel ist schon fast vollkommen schwarz.
    Das Interessante an Yuci ist nicht, dass es eine Altstadt hat, sondern dass diese Altstadt überhaupt nicht alt ist.
    Aber das wird mir erst klar, als ich bereits mehrere Stunden lang begeistert darin herumgelaufen bin und über hundert Bilder von Tempeln und Toren, von Straßen und Häusern gemacht habe. Eigentlich hätte ich es ahnen müssen: Zwischen den nahezuperfekt erhaltenen Gebäuden klaffen immer wieder Lücken, in denen sich im strahlenden Sonnenschein meterhohe Haufen aus Bauschutt türmen.
    Als ich in einer Gasse eine verfallene Lehmmauer fotografiere, höre ich hinter mir ein meckerndes Lachen. Es kommt von einem alten Mann, der auf einer Bank sitzt und aussieht wie das Klischee eines chinesischen Opas: dunkelblaue Schiebermütze und Stoffjacke, schwarze Hose, ein bisschen zu kurz, dazu weiße Socken und Stoffschuhe. Seine Hände ruhen auf einem knorrigen Spazierstock, und im Mund hat er eine Selbstgedrehte. Mit seinem falkenhaften Gesicht und der Brille erinnert er mich irgendwie an Hermann Hesse.
    »Russkij?« , fragt er, aber ich schüttele den Kopf und antworte auf Chinesisch. »Aus Deutschland.«
    »Ah!« Es hört sich ein bisschen enttäuscht an. »Sprecht ihr da kein Russisch?«
    »Nein, normalerweise nicht.«
    Er nimmt die Zigarette mit zwei Fingern aus dem Mundwinkel und deutet damit auf die Mauer. »Das ist die alte Stadtmauer – das Einzige, was von der Altstadt übrig ist!«
    »Aber …« Ich blicke mich um: Die Gasse ist mit breiten Platten gepflastert und zu beiden Seiten von Steinhäusern gesäumt. Über den geschwungenen Dächern kann ich im Hintergrund den Glockenturm erkennen, der seine bunten Verzierungen in den Himmel reckt.
    »Alles neu!«, sagt der chinesische Hermann Hesse und lässt erneut sein meckerndes Lachen hören.
    Als ich wenig später wieder auf der Straße in Richtung Südwesten laufe, ärgere ich mich über mich selbst. Warum habe ich ihn nicht gefragt, weshalb in Yuci alles neu gebaut wurde? Vielleicht hätte er mir etwas über den Krieg erzählt oder über die Kulturrevolution, oder es hätte sich herausgestellt, dass die jetzige Stadtregierung dafür verantwortlich ist. Das wäre eigentlich nicht einmal sehr unwahrscheinlich – die Bauwut der chinesischen Politiker ist im ganzen Land mindestens ebenso bekanntwie ihre Abneigung gegen alles Alte und Unvollkommene.
    Abends suche ich mir ein Hotelzimmer, kaufe eine Portion scharf angebratene Rapssprossen und rufe bei Juli an.
    »Yuci ist das chinesische Münster!«, behaupte ich zwischen zwei Bissen.
    Sie lacht: »Münster? Keine Ahnung, das ist in Norddeutschland, oder?«
    »Okay, dann meinetwegen Nürnberg. Yuci ist also das chinesische Nürnberg!«
    »Warum denn das? Hast du nicht gesagt, dort wäre alles neu?«
    »Genau wie in Nürnberg! Alles komplett neu aufgebaut!«
    »Aber in Deutschland war das ja auch nach einem Krieg!« Julis Stimme hat plötzlich einen ungeduldigen Klang. »Während die Leute bei uns ihre Altertümer auch in Friedenszeiten kaputt machen.«
    »Das könnte am Geschichtsverständnis liegen«,

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