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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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Geschenkpapier eingewickelten Gegenstand hervor und legt ihn in meine Hand. Ich soll ihn erst auspacken, wenn sie weg ist. Ein Lächeln, ein Kuss und eine Umarmung. Noch ein Kuss. Dann ist sie weg.

PARTYSTROHHALM
    Es dauert zwei volle Tage, bis ich mich endlich dazu aufraffen kann, das Dämmerlicht meines Hotelzimmers zu verlassen und wieder das zu tun, wozu ich eigentlich hergekommen bin: laufen. Als ich eines Vormittags in voller Montur mit meinem Gepäck vor die Tür trete, trifft mich der Winter wie ein Schlag. Trotz der Handschuhe, trotz der Mütze, trotz der langen Unterwäsche ist es furchtbar kalt.
    Nach sechs Kilometern durch frostigen Staub und Gegenwind komme ich südwestlich von Pingyao zu dem Heiligtum von Shuanglin, dem »doppelten Wald«. Shuanglin ist eine große buddhistische Tempelanlage aus dem fünften Jahrhundert, als das Reich noch gespalten war und niemand ahnen konnte, dass die Wiedervereinigung unter den hochmütigen Kaisern der Sui unmittelbar bevorstand. Damit wäre diese Tempelanlage ungefähr so alt wie die Hagia Sophia in Istanbul – also fast eineinhalb Jahrtausende.
    Wäre. Wenn nicht Feuer und Kriege die gesamte ursprüngliche Bausubstanz vernichtet hätten. Im elften Jahrhundert kam es in der Song-Dynastie zu einem umfassenden Wiederaufbau, der mehrmals abgeändert wurde, sodass fast alle der heute vorhandenen Gebäude und Statuen nicht älter sind als ein paar Jahrhunderte. Wie hatte es der alte Mann in Yuci ausgedrückt? »Noch hundert Jahre«, hatte er gesagt, auf die neuen Altbauten gezeigt und sein Hermann-Hesse-Gesicht zu einem spöttischen Lächeln verzogen, »dann werden auch diese Dinge Altertümer sein!«
    Shuanglin liegt still da. Nachdenklich spaziere ich über das Gelände, bis ich in einer der hinteren Tempelhallen beinahe über eine im Gebet versunkene Frau stolpere. Sie kniet im schräg einfallenden Licht der Tür auf einem Kissen und hat die Hände andächtig vor der Brust gefaltet. Trotz ihrer bauschigen Jacke muss ihr dabei sehr kalt sein. Während ich in den hinteren Teil der Halle schleiche, gewöhnen sich meine Augen langsam an das Halbdunkel. Lange Reihen von Tonfiguren tauchen an den Wänden auf. Sie sind in wallende Gewänder gehüllt und haben Kleinkinder in den Armen. Ein Fruchtbarkeitstempel.
    Ich blicke zu der knienden Frau hinüber und sehe, dass ihre Lippen sich lautlos im Gebet bewegen. Wahrscheinlich lebt ihr eigenes Kind fern von hier in einer der Metropolen und verdient dort gutes Geld, lässt sich aber mit der Familiengründung Zeit. Das Leben in der Großstadt, dieser wirbelnde Strom aus Geschäften und komplizierten Beziehungen – das ist hier, in der staubigen Stille des Hinterlands, gänzlich unvorstellbar. Was die Frau wohl zu ihrer Tochter oder ihrem Sohn sagt, wenn sie miteinander telefonieren? Dein Vater und ich wollen doch nur einen Enkel! Was bitte soll denn daran so schwierig sein?
    Plötzlich fällt mir auf, dass irgendetwas am Aussehen der Statuen befremdlich ist. Ich trete einen Schritt näher und bekomme eine Gänsehaut: die Augen! Eine junge Mutter aus Ton wendet mir ihr Antlitz zu. Mit ihrer zarten Nase und dem winzigen Mund war sie sicherlich einst eine Schönheit, doch wo ihre Augen sein müssten, gähnen jetzt nur noch zwei tiefe Krater. Das Baby in ihrem Arm lächelt fröhlich. Es hat seine Augen noch.
    Als ich den Aufpasser vor der Tür frage, wer den Figuren das angetan hat und vor allem warum , winkt er ab und weist mich stattdessen mit einem strengen Blick auf meine Kamera daraufhin, dass das Fotografieren der Altertümer grundsätzlich verboten sei.
    An diesem Tag komme ich nicht mehr weit, denn es ist einfach zu kalt. Mit laufender Nase stampfe ich tief vornübergebeugt gegen den Wind an und verfluche die Sonne, die feige am Himmel baumelt und ihre kaltblauen Strahlen verschickt, ohne zu wärmen.
    Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und versuche es mit Hardcorehymnen aus den Achtzigern, doch irgendwo zwischen Urban Waste und der dritten Packung Taschentücher komme ich in eine kleine Siedlung, wo mir auf einem Schild ein geheiztes Zimmer für wenig Geld versprochen wird, und natürlich knicke ich sofort ein.
    Nach einer dumpfen, traumlosen Nacht wiederholt sich das Ganze noch einmal am darauffolgenden Tag. Und dann ist auch schon der 31. Dezember da, und ich wache in einem winzigen Zimmer auf und frage mich, warum mein Hintern so brennt. In meinem Posteingang ist eine Mail von meinem Bruder Rubi: MEIN BRUDER

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