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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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kaum in den Mund bekomme.
    Mit einem Mal wird Juli still. Ich schaue sie fragend an, doch sie schüttelt nur den Kopf und rührt in ihrer Kartoffelcremesuppe herum.
    Hochgezogene Augenbrauen.
    Sie seufzt. »Ach, es ist nicht nur der Winter in München. Wenn ich andere Pärchen um mich herum sehe, dann werde ich oft neidisch.«
    Eine Pause entsteht. Das Geräusch meines Messers auf dem Teller verstummt.
    »Weißt du, ich hätte auch gern einfach einen richtigen Freund«, sagt sie schließlich, »ich hatte noch nie einen.«
    »Aber eigentlich sind wir doch so gut wie zusammen!«
    »So gut wie?«
    Der Rest meines Steaks erkaltet, während ich ihr aufs Neue erkläre, dass ich bald wieder bei ihr sein werde. Ich rede von E-Mails und Telefonaten, von günstigen Flugverbindungen und von Treffen an den schönsten Orten der Seidenstraße. Und ich behaupte immer wieder, dass die Zeit wie im Flug vergehen werde. Außerdem: Was müssten erst die Frauen von Soldaten oder Seemännern sagen, wenn ihre Männer gezwungenermaßen von zu Hause fortgingen?
    Juli rührt weiter in ihrer Suppe herum. Sehr überzeugt sieht sie nicht aus.
    Ich greife nach ihrer Hand. »Mein Leben in Beijing liegt hinter mir, fast tausend Kilometer schon. Es gibt jetzt nur noch die Wanderung und dich.«
    Der Hauch eines Lächelns erscheint auf ihrem Gesicht. »Die Wanderung und mich? In dieser Reihenfolge?«
    Ich stopfe mir eine Handvoll Pommes in den Mund. »Weißt du nicht, dass ich zu dir laufe, du dummes Ei?«
    Sie lacht. »Du bist selbst ein dummes Ei und ein verfressenes noch dazu!«
    Die nächsten zwei Tage verbringen wir mit chinesischen Fernsehserien, Essen, Schlafen und Streifzügen durch die Altstadt. Pingyao ist mit seinen mächtigen Stadtmauern, den engen, beidseitig mit roten Lampions behängten Gassen und dem Labyrinth aus miteinander verbundenen Hofhäusern eines der wenigen Beispiele, das erahnen lässt, welche Schönheiten in einem Großteil der chinesischen Städte verloren gegangen sind. Aber warum hat sich ausgerechnet dieser Ort erhalten können, der bis ins späte neunzehnte Jahrhundert eins der finanziellen Zentren des Kaiserreichs war?
    Als uns der Fremdenführer im ersten Bankgebäude Chinas von der Geschichte Pingyaos mit all ihren Wechselfällen erzählt, stupstmich Juli in die Seite und flüstert: »Der Alte von der Grenze verliert sein Pferd – erinnerst du dich?«
    Es ist erst wenige Tage her, dass sie mir dieses Sprichwort beigebracht hat: Wenn der Alte von der Grenze sein Pferd verliert, dann kann dies auch Glück verheißen. Die dazugehörige Geschichte kennt in China jedes Kind: Während der Han-Dynastie lebte an der Grenze ein Greis, dem eines Tages sein Pferd entlief. Als seine Freunde zu ihm kamen, um ihn aufzumuntern, winkte er ab und erklärte, dass sich dieses Ereignis auch als glückbringend erweisen könne. Und richtig: Nach einer Weile kam das Pferd von selbst wieder zurück und brachte darüber hinaus noch ein anderes mit, das wesentlich wertvoller war. Der Sohn des Alten wollte sich sofort auf das neue Pferd setzen, doch wurde er abgeworfen und brach sich dabei ein Bein. Letzten Endes entpuppte sich dann jedoch auch dieses Missgeschick als Glücksfall, denn kurz darauf wurden alle wehrfähigen Männer zum Kriegsdienst eingezogen, und nur der Sohn mit dem gebrochenen Bein durfte bei seinem Vater bleiben.
    Julis Haar schimmert in den Strahlen der Morgensonne, und ich lausche ihren Atemzügen, die sanft sind wie ein- und ausfliegende Träume. In einer Ecke des Raumes lehnt mein Rucksack und will wieder gefüllt werden. Die Kameras und das GPS liegen auf dem Tisch, die Batterien sind in ihren Ladegeräten. Daneben ist der Laptop aufgeklappt, der meine ganzen bisherigen Erlebnisse gespeichert hat; die Fotos, die Routen und die Tagebucheinträge. Die Schuhe stehen auf der Fensterbank. Sie sind seit zwei Tagen trocken.
    In wenigen Stunden geht Julis Flugzeug nach Chengdu.
    »Komm doch für ein paar Tage mit zu mir nach Hause«, sagte sie gestern, als wir gerade eine Portion in Honigsauce gebratener Hühnerflügel verspeisten. »Meine Eltern würden sich bestimmt sehr darüber freuen, wenn du zu Besuch kämst!«
    Tausende von Kilometern mit dem Flugzeug? Fort von meinem Weg?
    Ich versuchte ein Lächeln aufzusetzen, das zugleich ernst undtröstend aussehen sollte. »Du weißt doch, dass ich nicht mitkommen kann. Egal, wie sehr ich möchte!«
    Kurz bevor sie fährt, greift Juli in ihre Jackentasche, holt einen kleinen, in

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