The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Körben, Paketen und Tüten gehört ihr. An der Wand hängt ein Bild von einem Ausländer mit langem Haar, Vollbart und sanftem Blick: Tante Hu ist evangelisch.
Aber das sei nicht so wichtig, befindet sie, die Hauptsache müsse doch sein, zu Brüdern und Schwestern vor Jesus zu werden.
»Du musst Hunger haben!«, sagt sie und macht sich ungeachtet meiner Proteste daran, einen Becher Fertignudeln aufzugießen und eingelegte Gemüsestückchen hineinzugeben. Kurze Zeit später sitze ich schlürfend und schmatzend in einem Wölkchen aus künstlichem Rindfleischaroma und blicke in ihr freudestrahlendes Gesicht.
»Bei euch sind alle Menschen Christen, oder?«, fragt sie.
Ihr ganzer Stolz ist eine alte Bibel, ein dickes, in grünen Stoff eingeschlagenes Buch, das sie mit einem aufgenähten roten Kreuz verziert hat. Viele Textstellen hat sie mit Bleistift markiert, und die Seitenränder sind vom wiederholten Umblättern schon ganz dunkel und glatt. Als ich sie frage, ob ich ein Foto von ihr mit dem Buch machen darf, nickt sie und setzt ein feierliches Gesicht auf.
»Sag mal, warst du schon immer Christin, Tante Hu?«
»Nein«, seufzt sie. »Ich habe einen eher schwierigen Charakter.«
Wie? Mir kommt sie wie die perfekte gutherzige Tante vor.
»Ach, früher war ich richtiggehend streitsüchtig«, erklärt sie, »ich konnte aus jedem nichtigen Grund eine Auseinandersetzung anzetteln.«
»Und dann?«
Eine Pause entsteht. Im Sucher meiner Kamera sehe ich, wie sich ihre Finger fester um das alte Buch schließen.
»Dann habe ich Gott gefunden. Mein Herz war nie schlecht, weißt du.«
Sie bedeutet mir zu warten und taucht mit einem kleinen Foto in der Hand wieder auf. Ein junger Mann ist darauf zu sehen. Er ist sehr ordentlich gekleidet und blickt mit etwas unsicherem Ernst in die Kamera.
»Mein Sohn«, sagt sie stolz und legt mir das Bild in die Handfläche, »er studiert in Beijing!«
»Wow!« Unwillkürlich blicke ich mich in ihrem Laden um, denn ich kann mir kaum vorstellen, wie die Einnahmen daraus auch nur für die Studiengebühren reichen sollen.
»Mein Mann arbeitet im Bergwerk«, erklärt sie mit einem Seufzen, »aber es ist nicht besonders gut für seine Gesundheit.«
Ich betrachte den jungen Mann auf dem Foto: Anfang zwanzig, kantige Gesichtszüge, durchaus gut aussehend. Ob ihm das Opfer bewusst ist, das seine Eltern für ihn bringen?
»In einem Monat kommt er wieder«, sagt Tante Hu stolz. »Er kommt immer zum Frühlingsfest.«
Ich gebe ihr das Foto zurück. An den Rändern ist es glatt und dunkel. Wie die Seiten ihrer Bibel.
An diesem Abend hole ich mir eine Erkältung. Nachdem ich viel zu spät von Tante Hus Laden aufgebrochen bin, finde ich mich im Dunkeln auf einer buckligen Bergstraße wieder, über die die Lichtkegel der Lkw tanzen. In der Ferne leuchtet die Siedlung Nanguan, der »Südpass«. Es ist kalt und staubig, und ich wünschte, ich läge bereits in meinem Schlafsack. Ab und zu esseich einen Apfel oder eine Banane, um weniger tragen zu müssen.
»Nanguan ist weiter, als du denkst, Junge!«, hatte Tante Hu gesagt und keine Widerrede gelten lassen, während sie mich tütenweise mit Früchten belud. Dann brachte sie mich zur Tür und sagte: »Gott beschütze dich!«
Als ich mich nach einer Weile umdrehte, sah ich sie als kleine winkende Silhouette in ihrer Tür stehen.
Und jetzt, mit den Felsen auf der einen Seite und dem Abgrund auf der anderen, mit dem Dröhnen der Vierzigtonner im Ohr und dem Vorgeschmack einer Erkältung im Hals, spätestens jetzt ist mir klar, dass sie recht gehabt hat: Nanguan ist ungefähr doppelt so weit entfernt, wie es auf der Karte aussieht.
Verdammte Serpentinen!
Als ich endlich in einem kleinen Hotel angekommen bin, lege ich einen Stapel Papiertaschentücher und eine große Wasserflasche griffbereit neben das Kopfkissen und krieche in meinen Schlafsack. Ich bleibe eine Nacht und einen Tag lang liegen und winde mich in dumpfen Traumwelten, in denen Hunde von Tigern gefressen werden und Pferde darüber lachen.
Irgendwann wache ich schweißgebadet auf. Die Sonne scheint durch das schlierige Fenster in mein Gesicht, und für einen Moment bin ich orientierungslos. Dann kommt alles zu mir zurück: das schwarze Kohleland, der Nachmittag unter dem Jesus-Bild, die Kälte, die Dunkelheit und das Hotel. Ich esse den letzten von Tante Hus Äpfeln, dann schlafe ich wieder ein.
Am nächsten Morgen laufe ich rotnasig und auf wackligen Beinen am Straßenrand entlang
Weitere Kostenlose Bücher