The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Silvesterabend, den ich allein verbringe. Beim ersten Mal war ich achtzehn Jahre alt, unser Haus in Bad Nenndorf war voller trauernder Angehöriger, und ich hatte wochenlang nicht richtig geschlafen.
Um zehn Uhr abends schnürte ich meine Schuhe und ging los: zuerst das Treppenhaus hinunter und zur Haustür hinaus, dann an feiernden Menschen vorbei und durch den schwach erleuchteten Park, über die weite, schneebedeckte Fläche der Felder hinweg bis zu dem Punkt, wo der schwarze Buckel des Waldes wie ein kauerndes Tier in der Finsternis lag.
Den Schritt in den Wald machte ich mit geschlossenen Augen, wie jemand, der zum ersten Mal vom Zehnmetterbrett springt. Finsternis, verdächtiges Rascheln, der Geruch von Tannennadeln. Ich hatte drei Pullover unter meiner Jacke an und verspürte keine Kälte, aber die Dunkelheit war beängstigend, also durfte ich auf keinen Fall stehen bleiben. Rhythmisch atmend, folgte ich dem schwachen Licht meiner Taschenlampe, bis die Finsternis sich nach einer Weile zurücklehnte und den Blick auf eine Lichtung freigab, aus der ein mächtiger schwarzer Block hervorragte – der Aussichtsturm.
Als ich emporstieg, hallten meine Schritte dumpf durch die alten Mauern. Die Turmspitze ragte nur ein kleines Stückchen über die höchsten Bäume hinaus, aber sie war doch hoch genug, um in der Ferne die Siedlung erkennen zu können. Noch eine Stunde bis Mitternacht. Ich setzte mich in eine Ecke und kritzelte in meinem Tagebuch herum.
Doch die schöne Stille währte nicht lange. Ich hörte ein gackerndes Lachen, gefolgt von einer Feuerwerksrakete, die zischend emporstieg und als riesige rote Blume am Himmel explodierte. Johlende Rufe, Gelächter und Schritte kamen näher, und binnen weniger Momente war ich umgeben von Luftschlangen und Champagnergläsern.
Entsetzt verließ ich den Turm und flüchtete. Am Rand der Lichtung warf ich einen Blick zurück: Die Spitze des Turmes wurde von Lichtblitzen erleuchtet, und das Zischen der Feuerwerkskörper durchbrach die Nacht. Trunkenes Gelächter und lallender Gesang. Der Wald hatte seinen Schrecken verloren. Ich lief, und während ich tiefer in die Dunkelheit vordrang, konnte ich das verwirrte Rascheln und die fragenden Laute der Tierehören, die vom Lärm der Menschen aus dem Schlaf gerissen worden waren.
»Keine Angst!«, hörte ich mich flüstern, während ich durch die ersten Minuten des neuen Jahrtausends lief, meinem Zuhause entgegen, und spürte, wie mich das Laufen langsam ruhiger werden ließ.
SÖHNE
Am Morgen des neuen Jahres stehe ich spät auf. Ich besichtige das Wang-Familienanwesen, das noch ein bisschen beeindruckender ist als das der Changs und das der Qiaos, dann bestelle ich mir ein viel zu großes Abendessen und gehe früh schlafen.
Den nächsten und den übernächsten Tag führt mich mein Weg durch Kohleland: Die Landschaft ist schwarz, und jeder meiner Schritte wirbelt Staub auf. Wenn ich abends mein Gesicht wasche, läuft das Wasser in dunklen Spiralen ins Waschbecken hinein. Aber das Gehen fühlt sich gut an, denn die Sonne scheint, und weder meine Füße noch irgendwelche anderen Körperteile tun mir weh.
Ich folge den verwitterten Straßenbegrenzungspfeilern oberhalb eines braun rauschenden Flusses, als mein Telefon klingelt. Es ist Ke’er. Sie ruft aus Beijing an und möchte wissen, wo ich bin und vor allem ob ich mir schon überlegt habe, wo ich in einem Monat das Frühlingsfest verbringen werde.
»Komm doch mit zu meiner Familie nach Yuncheng«, sagt sie, »das müsste auf deinem Weg liegen!«
Sie hat recht: Nach meinem GPS liegt die Stadt ungefähr vierhundert Kilometer südwestlich von meiner Position, also ziemlich genau auf der geplanten Route. Von Yuncheng wäre es dannnicht mehr weit zum Huanghe, dem Gelben Fluss, und auch die alte Kaiserstadt Xi’an wäre endlich in greifbare Nähe gerückt. Aber ob ich das bis zum 6. Februar schaffen kann?
»Streng dich an, Leike!«, ruft Ke’er, und ihr Lachen hört sich an wie die hellen Nächte von Beijing.
In einem kleinen Dorf fällt mir ein Kreuz auf einem Gebäudedach ins Auge. Es leuchtet rot in der Sonne, und darunter befinden sich eine Tür und ein Schild, auf dem steht, dass es dort GEMÜSE, FRÜCHTE, REIS, MEHL UND ALLES FÜR DEN TÄGLICHEN BEDARF zu kaufen gibt. Die Tür öffnet sich mit einem rostigen Quietschen, als ich eintrete.
»Jesus liebt dich!«, ruft die Besitzerin strahlend.
Sie heißt Tante Hu, und der Laden mit seinem Gewirr aus Tischen, Regalen,
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