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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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und wundere mich über einen Strich auf dem Boden, der von Horizont zu Horizont neben der Fahrbahn entlangläuft. Er ist handbreit und kalkweiß, und mit ein bisschen Phantasie könnte man ihn für die Begrenzung eines gigantischen Spielfeldes halten.
    »Wird hier viel Fußball gespielt?«, frage ich einen Mann, der vor seinem Haus in der Sonne sitzt, und zeige auf die mutmaßliche Torlinie zu seinen Füßen.
    Es ist der Versuch eines Scherzes, aber der Mann schüttelt nur verständnislos den Kopf: »Hä?«
    Ich versuche es noch einmal: »Spielt ihr damit etwa Volleyball?«
    Sein Gesicht ist eine einzige Frage: »Aber womit denn?«
    »Na, mit der Linie!«
    »Wie? Aber die ist doch …«
    Es stellt sich heraus, dass die Linie anzeigt, bis wohin die Gebäude abgerissen werden müssen, wenn in ein paar Wochen die Straße verbreitert wird. Bis zur Linie muss alles weg.
    »Und das Haus dort drüben?« Ich deute fassungslos auf ein Backsteingebäude, in dessen Türrahmen ein Kleinkind spielt. Die Linie geht mitten durch das Gebäude hindurch.
    Der Mann blickt meinem Finger einen Moment lang nachdenklich hinterher. Dann wiegt er langsam den Kopf und wiederholt einen Satz, den vermutlich schon Generationen von chinesischen Bauern resigniert geäußert haben: »Da kann man nichts machen.«

DER MEISTER VOM BERG
    Die weiße Linie hat mich bis in den Ort Huozhou geführt. Ich nehme mir ein Hotelzimmer und bleibe zwei Tage lang mit meiner Erkältung liegen. Es gibt hier zwar einen alten Glockenturm und die Ruinen eines Verwaltungssitzes aus der Kaiserzeit, die ich mir pflichtbewusst ansehe, aber die meiste Zeit verbringe ich in meinem Zimmer und schaue Filme, in denen viel kaputtgeht.
    Als ich die Stadt verlasse, fühlt sich mein Gehirn dann auch an wie ein wabbeliger Schwamm. Ich atme die kühle Luft des Morgens und sehe die Straße unter meinen Füßen dahingleiten, doch vor meinem inneren Auge ringeln sich Wirbelstürme, Kometen stürzen vom Himmel, und Städte werden von Lavamassen verschlungen.
    Juli schien meinen Zeitvertreib dieser Tage ein bisschen albern zu finden. »Du liebst deine Katastrophenfilme, oder?«, fragte sie lachend, und ich musste zugeben, dass sie recht hatte: Für mich ist im Kino nichts schöner, als wenn möglichst viel in die Brüche geht und am Ende nur noch die zarte Hoffnung auf einen Neuanfang bleibt. Dann sitze ich wie gebannt da, schütte Süßigkeiten und Cola in mich hinein und bin glücklich. Auch wenn ich davon einen dicken Kopf bekomme.
    Ich laufe durch ein lang gezogenes Tal, als mir auf einem der umgebenden Hügel ein seltsames rotes Gebäude auffällt. Es hat eine schwarz-weiße Zeichnung an der Wand: einen Kreis, der von einer Schlangenlinie halbiert wird und jeweils einen Punkt in seinen beiden Hälften hat – ein Tempel!
    Alle Katastrophenfilme und alle Kopfschmerzen sind vergessen, und unwillkürlich beschleunige ich meine Schritte: Dies wird mein erster Bergtempel auf dieser Reise sein!
    Nach einem heftigen Anstieg bleibe ich keuchend vor dem Eingang stehen. Wushengmiao – »Tempel der Fünf Heiligen«, steht über einer halbrunden Öffnung in der Mauer, und daneben hängt eine offizielle Plakette, die das Gebäude als AKTIVITÄTSZENTRUM FÜR BUDDHISMUS UND DAOISMUS DER STADT HUOZHOU ausweist.
    »Wei?« , rufe ich zaghaft hinein. Durch das Tor kann ich auf einen mit niedrigen Büschen und Bäumchen getupften Innenhof blicken, der vom Rot der Tempelgebäude eingefasst ist. Kein Geräusch stört hier oben die Stille.
    Ich versuche es noch einmal. » Wei ? Ist hier jemand?«
    Meine Stimme verhallt. Ich will schon umkehren, da höre ich das Zuschlagen einer Tür und rasch näher kommende Schritte. Doch der Mann, der vor mir auftaucht und überrascht die Augenbrauen hebt, sieht weder wie ein Daoist aus noch wie der Vertreter irgendeiner anderen Religion. Mit seiner legeren Kleidung und dem Dreitagebart könnte er genauso gut einer derDVD-Händler sein, bei denen ich mir vor ein paar Tagen meine Überdosis an Katastrophen besorgt habe.
    »Äh, ich wollte eigentlich gern den Tempel besichtigen«, bringe ich verwirrt hervor.
    Der Mann lächelt. »Ein ausländischer Gast? Komm doch herein, Meister Yan wird sich bestimmt freuen!«
    Sekunden später stehe ich in einem matt erleuchteten, höhlenartigen Raum und blinzele in die Dunkelheit. Da ist eine Gruppe von fünf oder sechs Leuten, die offensichtlich bis gerade eben noch in eine Unterhaltung vertieft waren. Ein alter Mann erhebt sich und

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