The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
stumm sitzen, dann deutet er auf mein Buch und sagt, dass er den Film dazu ganz gut finde. Als ich ihn frage, was er von den neuen Werken des Regisseurs halte, lächelt er verlegen: Dieser Zhang Yimou, der mache doch nur noch solche Monumentalschinken mit fliegenden Gongfu-Kämpfern, das sei nun wirklich zum Gähnen! Auf meine Behauptung, dass die Leute im Ausland genau diese Filme furchtbar gern gucken, weil sie sie für so schön chinesisch halten, gluckst er vergnügt: Komisch sind sie, die Leute im Ausland!
Ich beschließe, ihn in meinen Plan einzuweihen, morgen über den Gipfel auf der Südseite abzusteigen, doch ich habe die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da rät er mir schon eindringlichst davon ab: Der obere Teil des Berges sei tief eingeschneit, ich würde die Wege nicht finden, und außerdem gebe es auf der Südseite auch keine Möglichkeit, ins Tal zu kommen. Als ich auf meinem Vorhaben beharre, winkt er so heftig ab, dass die Asche seiner Zigarette sich zwischen uns auf dem Tisch verteilt. Einen Moment ist Stille, dann sagt er mit einem versöhnlichen Lächeln: »Ihr Ausländer habt schon immer interessante Ideen, oder?«
Am nächsten Morgen füge ich drei Kekspackungen, zwei kleine Wasserflaschen und eine große Flasche Sprite zu meinem Gepäck hinzu. Dann verlasse ich federnden Schrittes die schlafend daliegenden Gebäude und nähere mich dem Blau des Himmels.
Mein Optimismus verfliegt innerhalb einer halben Stunde. Die Wege oberhalb der Siedlung sind nicht nur steil, sondern darüber hinaus auch noch so hoch mit Schnee bedeckt, dass ich an manchen Stellen bis über die Knie einsinke.
Stunden später komme ich am Gipfel an, erschöpft und schweißgebadet. Die Welt liegt in stählernem Blau unter mir. Ich trinke ein paar Schlucke Sprite und esse ein paar Kekse, und plötzlich wird mir klar, dass es mir tatsächlich irgendwie gelungen ist, bis zum Mittelpunkt des mysteriösen Dings auf der Landkarte zu kommen. Xiaohei wäre stolz auf mich!
Ich krame mein Handy hervor und tippe ein paar Zeilen ein, in denen ich ihm mitteile, dass er richtig gelegen habe, dass es sich bei dem mysteriösen Gebilde um einen Berg handelt oder womöglich gar um einen alten Vulkan und dass direkt unter dem Gipfel überdies ein kleiner buddhistischer Tempel ist.
Der Tempel sieht mit seinen roten Mauern so ähnlich aus wie der von Meister Yan, aber aufgrund des vielen Schnees wirkt er sogar noch ein bisschen romantischer. Ich finde eine Fußspur, der ich hineinfolge, und fühle mich wie im Märchen.
Ein einsamer Berg in einem fernen Land und ein Tempel, tief verborgen im Schnee. Ein erschöpfter Wanderer, der einen Ort sucht, um sich auszuruhen. Er klopft sich die Schuhe ab und humpelt über die Schwelle, und dann sieht er die roten Wände und die gelben Seidenfahnen in der Sonne leuchten. Was für ein wunderschöner Ort, denkt er, doch als er bereits mit seinem Stab auf den Boden klopfen möchte, um sich bemerkbar zu machen, kommt ihm ein Gedanke: Warum ist es nur so still?
Einen Moment lang bleibe ich stehen und lausche. Die Fußspuren auf dem Boden führen ins Innere einer Tempelhalle. Während der Wind leise mit den Fahnen und dem Schnee in den Bäumen spielt, überlege ich, ihnen nachzugehen, doch dann drehe ich mich um und kehre vorsichtig auf dem gleichen Weg zurück, auf dem ich gekommen bin. Es soll ein Märchen bleiben! Mein Blick fällt auf meine eigenen Schuhabdrücke, und ich finde, dass sie sich neben den anderen so groß ausnehmen wie die eines Trolls, der sich im Elfenland verirrt hat.
Es ist halb zwei, Zeit für ein paar praktische Überlegungen: Der Himmel ist zwar jetzt noch strahlend blau, aber ab spätestens sechs Uhr wird es hier draußen stockfinster sein. In der Fernekann ich unregelmäßige Flecken in der Landschaft sehen, das sind Dörfer, so winzig und unbedeutend, dass ich sie bisher von der Karte her nur als blasse Pünktchen kenne. Aber wenn ich großes Glück habe und es vor der Dämmerung dorthin schaffe, kann ich vielleicht jemanden finden, der mich für die Nacht aufnimmt.
Und schlagartig wird mir klar, dass ich so schnell wie möglich von diesem Berg herunter muss. Doch nirgendwo ist auch nur die Andeutung eines Weges zu sehen. Beunruhigt steige ich zum höchsten Punkt über der Südflanke empor, doch alles, was ich erkennen kann, sind wellige, mit riesigen Steinblöcken übersäte Abhänge.
Umkehren? Zu dem geschlossenen Skigebiet zurück, eine weitere Portion Fertignudeln in
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