The Lost
Woher soll ich das wissen? Was, hat er dir etwa einen geschenkt?«
»Ja, Tim. Mittwochabend hat er mir einen Ring geschenkt.«
»Jennifer, ich sag’s ja nur ungern, aber er hat eine ganze Schublade voller Ringe. Er hat sie mir gezeigt. Er hat mindestens ein halbes Dutzend von den Dingern verschenkt. Sieht aus wie ein Diamant, stimmt’s? Ist aber nur Glas, verdammt nochmal!«
»Du spinnst.«
In Wahrheit glaubte sie ihm. Tim bestätigte nur, was Schilling gesagt hatte. Sie spürte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. Ihr Herz pochte.
Er seufzte. Und dann klang seine Stimme plötzlich tieftraurig und verloren. »Ich wünschte, du würdest mir glauben, Jen«, sagte er. »Alles, was ich gesagt habe. Nicht nur über Ray. Auch über dich und mich. Wirklich, ich wünschte, du würdest mir glauben.«
Und dann tat er etwas, was er noch nie getan hatte.
Er legte einfach auf.
Sie ließ den Hörer auf die Gabel sinken und betrachtete den Ring, drehte ihn um den Finger. Sie war den Tränen nahe, aber sie konnte nicht weinen. Sie konnte nur den Ring drehen, der sich längst vertraut anfühlte und ihr Trost spendete. Schließlich ging sie in die Küche und goss sich etwas Spülmittel über den Finger, drehte den Ring noch einige Male herum, zog ihn über den Knöchel und wusch die Seife ab.
In der Werkzeugschublade neben dem Kühlschrank fand sie zwischen Zangen, Schraubenziehern und Batterien einen alten Tischlerhammer. Sie nahm ihn heraus und schloss die Schublade, legte den Ring auf den Resopaltresen neben der Spüle und bedeckte ihn mit einem ausgefransten weißen Geschirrtuch. Dann hob sie den Hammer, ließ ihn herabsausen und zog das Tuch zurück.
Und schaute auf den Ring. Und dann fing sie doch an zu weinen.
Es war halb zwei in der Nacht, als sie mit dem Wagen ihrer Pflegeeltern durch die gewundenen Straßen zum See hinunterfuhr. Sie parkte vor Tonys Angelladen, der dunkel und verlassen dalag, lief zum Steg und setzte sich ans hintere Ende. Unter ihrer Jeans konnte sie die rauen verwitterten Holzplanken spüren. Eine kühle Brise wehte über den See, und sie hatte keinen Pullover mitgebracht. Einen Arm um den Körper gelegt, die Hand unter der Achsel, hockte sie da und rauchte eine der beiden Viceroys, die sie aus Mrs. Griffiths Packung auf dem Wohnzimmertisch geklaut hatte.
Komisch, dachte sie. Der See ist so schön, und wir nutzen ihn kaum noch. Die Touristen schon. Die kleinen Kinder auch, so wie wir früher, aber inzwischen nehmen wir ihn kaum noch wahr. Als hätten nur diejenigen Augen für ihn, die ihn zum ersten Mal sehen, mit ihrem unverstellten Blick, so wie die Touristen; oder aber man musste unschuldig sein wie ein Kind, um sich an ihm erfreuen zu können. Sie fühlte sich alt und müde und erschöpft. So fertig war sie nicht mal, wenn sie besoffen oder völlig bekifft war. Sie starrte aufs Wasser hinaus. Auf den Wellen glitzerte das Sternenlicht, darunter war es schwarz und tief. Sie fragte sich, ob es am fernen gegenüberliegenden Ufer auch jemanden gab, der um diese Zeit noch auf irgendeinem Steg saß und in die Dunkelheit starrte.
31
Katherine
Es war seltsam, ihren Vater so zu erleben. Und seltsam, aus welch seltsamen Gründen die Menschen manchmal Entscheidungen trafen. Seit jener einen Woche wusste sie, warum ihr Vater sich nie eine andere Frau genommen hatte. Nach all den Jahren hatte er ihre Mutter immer noch von ganzem Herzen geliebt. Trotz ihrer Krankheit. Es war die schlichte Wahrheit. Sie hätte nie gedacht, dass er noch so fühlte. Allerdings hatte sie auch nicht gemerkt, dass sie ebenfalls so fühlte, dass es möglich war, die Person zu lieben, die jemand mal war, während man das, wozu sie geworden war, hasste und sogar fürchtete. Es war, als wäre die geliebte Mutter all die Jahre in Katherine gefangen gewesen, so wie ihre Mutter im Wahnsinn gefangen war. Zwei Fliegen in einem Bernstein.
Ebenso seltsam war es, all diese Sachen für ihn zu tun. Sie hatte Etta für morgen ins Haus bestellt, aber heute Abend war sie diejenige, die ihm das Abendessen zubereitete, Salat und Spaghetti mit Tomatensauce; sie trug das Essen auf und räumte hinterher ab. Sie war diejenige, die ihm vorher – was für ihn untypisch war – einen Single-Malt-Whiskey einschenkte, diejenige, die die Post sortierte, die die Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen, und diejenige, die den Staub einer Woche von Küchentisch und Tresen wischte. Er hatte sich fast den ganzen Tag in seinem
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