The Lost
Schultern zitterten. Danach hat meine Mutter nie wieder gemalt, obwohl das möglich gewesen wäre, nachdem die Verbrennungen verheilt waren. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde und wieder halbwegs stabil war, hat er sie endlich eingewiesen.«
Er lehnte sich zurück und starrte sie an. Er bemerkte, dass sein zweiter Drink fast leer war, und trank ihn aus.
»Scheiße, Mann«, sagte er.
Sie trank ihren Daiquiri ebenfalls aus.
»Jeder hatte drei Fragen«, sagte sie. »Möchtest du noch eine Runde spielen?«
Er fand das eine Wahnsinnsgeschichte. Das Mädchen hier am Tisch war hammerhart, dachte er.
»Ich glaub nicht.«
»Ich auch nicht. Lass uns gehen.«
Sie winkte die Kellnerin heran und bat um die Rechnung. Die Blondine lächelte und rechnete alles auf einem Zettel zusammen, riss ihn ab und legte ihn umgekehrt neben sein Glas. Dann wünschte sie ihnen einen schönen Abend. Er wünschte ihr das Gleiche und warf einen Blick auf den Zettel.
»Heftig?«
Er nahm an, dass sie es an seiner Miene ablesen konnte.
»Neun Mäuse. Da, wo ich herkomme, ist das heftig, ja.«
»Leg ihr einen Dollar hin.«
»Das wären nur zehn Prozent Trinkgeld. Meinst du wirklich?«
»Nein. Ich meine, leg ihr einfach einen Dollar hin. Und fertig.«
»Häh?«
»Bescheiß sie einfach, die Blondine, der du bei jeder Gelegenheit auf den Hintern gestarrt hast.«
»Warum?«
»Weil ich dich darum bitte. Tust du das für mich?«
Er fragte sich, was geschah, wenn man in New York dabei erwischt wurde, wie man die Zeche prellte. Na schön, dachte er, spielen wir meinetwegen auch dieses Spiel. Er zog seine Brieftasche heraus und sah, dass die Blondine an einem Tisch links von ihnen eine Bestellung entgegennahm; sie beugte sich zu einem fetten Mann hinunter und wandte ihnen fast vollständig den Rücken zu. Er holte einen Dollar heraus, legte den Schein auf die Rechnung und beschwerte das Ganze mit dem Aschenbecher. Dann stand er kopfschüttelnd auf.
»Ganz schön durchgeknallt bist du«, sagte er. Er meinte es ernst. So etwas hatte er noch nie getan. »Hauen wir ab.«
Irgendwo im Lincoln-Tunnel dachte sie, es war schon komisch, dass sie ihm so viel erzählt hatte und dass es immer noch schmerzte, darüber zu sprechen. Sie dachte an ihren Vater, der morgen früh ihre Mutter in der Anstalt besuchen würde, und daran, dass die Frau, der er dort begegnen würde, nur noch vor sich hin vegetierte, eine Katatonikerin. Eine Frau, die nur dasaß und hin- und herschaukelte, ins Leere starrte und hin und wieder aufstöhnte, und die mal ihre Mutter gewesen war.
Er hatte sie gebeten, ihn zu begleiten.
Sie war froh, dass sie es nicht getan hatte, aber vielleicht hätte sie doch mitfliegen sollen.
Sie wusste es nicht.
Vergiss es. Es gab genügend andere Dinge, über die sie sich Gedanken machen musste. Zum Beispiel über diesen Typen hier, der einen Joint rauchte und sie nach Sparta zurückfuhr.
Wie sollte es mit Ray jetzt weitergehen?
»Ich bringe dich noch zur Tür. Damit du sicher nach Hause kommst.«
Sie lächelte ihn an, als wollte sie sagen, dass sie schon ein großes Mädchen und dass sein Spruch durchschaubar wie sonst was war, aber schön, warum nicht? Sie schenkte ihm stattdessen ein kompliziertes Lächeln, aber er wusste ja inzwischen, dass sie ein kompliziertes Mädchen war.
»In Ordnung.«
Sie führte ihn über den Gehweg und die Stufen hinauf, fischte den Hausschlüssel aus der Tasche, wandte sich zu ihm um und musterte ihn mit ernster Miene. Er spürte, wie sein Herz pochte. Er kam sich vor wie ein Junge bei seiner ersten Verabredung.
»Danke, Ray. War ein schöner Abend.«
Er setzte sein Elvis-Grinsen auf, trug es wie eine Halloweenmaske.
Süßes, sonst gibt’s Saures. Jetzt ging’s ums Ganze.
»Was ist? Krieg ich keinen Kuss?«
»Bei mir gibt’s am ersten Abend keinen Sex, Ray.«
»Das hab ich auch nicht erwartet. Obwohl es ja eigentlich unser zweiter Abend ist. Und damals haben wir uns geküsst, weißt du noch?«
Sie lachte. »Du meinst die kleine Kneipentour mit Jennifer und Tim? Die zählt nicht.«
»Ich habe nur gefragt, ob ich einen Kuss kriege. Von Sex hab ich nicht gesprochen.«
Sie stellte ihre Handtasche auf die Veranda.
»Na klar hast du das«, sagte sie.
Sie schmiegte sich an ihn und schlang die Arme um seinen Hals. Ihr Mund schmeckte nach Bier und Zigaretten, aber darunter lag das liebliche Aroma eines sehr jungen Mädchens. Er spürte ihren straffen festen Körper, und ihm wurde klar, dass sie
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