The Road of the Dead
Wenn er heute nicht nach London zurückfuhr, würde ich sterben.
Möglichkeiten?
Mir fielen keine ein.
Ich dachte lange und intensiv nach, betrachtete die Situation aus allen möglichen Blickwinkeln, doch egal, wie oft ich sie mir vor Augen führte, meine Lage blieb immer dieselbe: Ich konnte nichts tun. Es hing alles von Cole ab. Entweder fuhr er zurück nach London oder er fuhr nicht. Wenn er fuhr, würde mich Quentin wahrscheinlich gehen lassen. Es gab natürlich keine Garantie, aber mich
nicht
gehen zu lassen, brachte ihm keine Vorteile, und Vorteile waren das Einzige, was für ihn zählte. Solange Cole tat, was ihm gesagt wurde, würde mir nichts passieren, da war ich mir ziemlich sicher. Am Ende des Tages wäre dann auch ich auf dem Weg nach Hause und basta. Keine weiteren Aktionen. Quentin würde weiter seinen Geschäften nachgehen, Seldens Leiche würde nie gefunden werden und niemand würde je wegen des Mordes an Rachel angeklagt.
Wär das so schlimm?
, fragte ich mich.
Wen kümmert, was Quentin tut? Wen kümmern Mordanklagen? Gerechtigkeit ändert gar nichts. Und Selden ist sowieso tot. Das Einzige, was zählt, ist Rachels Leichnam zurückzubekommen, und das wird schon irgendwann passieren. Wir müssen nur eben ein bisschen länger warten.
Wär das so schlimm?
Keine Schmerzen mehr. Kein Tod mehr. Kein Quentin mehr …
|264|
Keine Rachel mehr.
Keine Rachel mehr.
Keine Rachel mehr.
Es kam jetzt immer wieder zu mir zurück – Rachel war tot. Die Wirklichkeit stieg weiter in mir nach oben, glitt aus den Tiefen empor wie eine große schwarze Wolke, füllte mein Herz mit Dunkelheit und meine Augen mit Tränen.
Ich konnte nichts tun. Ich saß bloß weinend im goldenen Licht und sah zu, wie meine Tränen im Dreck zu Staub wurden.
Schweben …
Gleiten …
Empfinden …
Die Hitze im Wohnwagen ist blau und einschläfernd. Ich höre den Gasofen zischen. Die Luft ist gewürzt mit Zigarrenrauch, Kaffee und frisch gewaschenen Laken, die auf dem Wäscheständer trocknen. Ich sehe Cole in einem Sessel vor dem Feuer sitzen und Jess zu seinen Füßen auf dem Boden knien. Sie säubert und verbindet seine Hand. Ihr Onkel kocht hinten in einer Küchenecke Kaffee und ihre kleine Schwester Freya sitzt auf einem Klappbett in der Ecke und wiegt ein Baby in ihrem Schoß. Das Baby ist still, es nuckelt am Daumen. Freya starrt Cole wortlos an.
Eine Uhr an der Wand zeigt neun.
Alles ist still.
Cole schaut weg vom Feuer und sieht sich langsam im Wohnwagen um. Ihm gefällt, was er sieht. Feine Porzellanteller an der Wand, ausgefallene Teppiche, gerahmte Fotos lächelnder Kinder. Topfblumen, kunstvolle Spiegel, Glasnippes auf einem zierlichen |265| Tisch …
» Halt die Hand still«, sagt Jess zu ihm.
Cole sieht zu ihr hinab. Er fühlt sich ein bisschen verlegen – so umsorgt und umhegt zu werden –, aber es ist nicht allzu schwer, damit klarzukommen.
»Nimmst du Zucker, Junge?«, fragt Reason.
Cole lächelt und nickt. Durch ein kleines Fenster hinter dem alten Mann sieht er einen weißen BMW und einen metallicschwarzen Shogun, die neben einem blassblauen Wohnwagen parken. Der Wohnwagen ist mit Silber und Gold dekoriert und mit Blumenkörben geschmückt. Rechts davon schiebt ein strohblonder Mann kaputte Paletten in ein brennendes Ölfass. Holzrauch windet sich in den Morgenhimmel. Cole lächelt in sich hinein. Er sieht Hunde am Fuß eines Pflocks aus Winkeleisen liegen, zwei gescheckte Ponys, die an einen Pfosten gebunden sind, Metallkübel, Räder, eine Badewanne auf einem Tisch, Kaninchenhäute, Gaszylinder, einen kleinen roten Plastiklaster, der im Matsch liegt …
»Zieh dein Hemd aus«, sagt Jess.
Cole sieht sie an, seine Augen zucken unsicher zu Reason und Freya.
»Sei nicht albern«, erklärt ihm Jess. »Die sind keine Nonnen. Zieh einfach dein Hemd aus. Ich muss deine Rippen tapen.«
Als Cole anfängt, sein Hemd aufzuknöpfen, kommt Reason herüber und stellt den Becher Kaffee neben ihn auf einen kleinen Holztisch. Dort liegt auch die Nachricht von Quentin, mit der Schrift nach oben. Reason wirft einen Blick drauf, dann sieht er Cole an. Der hat inzwischen sein Hemd ausgezogen und offenbart ein schauerliches Chaos von Striemen und dunklen Blutergüssen. |266| »Ich habe deinen alten Herrn auch mal so lädiert gesehen wie dich jetzt«, sagt Reason. »Riesiger Show-Typ aus Truro war das. Fäuste wie Kanonenkugeln.«
Cole lächelt. »Wer hat gewonnen?«
»Was glaubst du?
Weitere Kostenlose Bücher