The Stand. Das letze Gefecht
rot gewesen, und sämtliche Muskeln des Beins schienen weh zu tun.
Er war zur Praxis von Dr. Soames gehinkt und hatte sich eine Flasche Jod genommen. Er hatte die ganze Flasche über die etwa dreißig Zentimeter lange Wunde geschüttet. Aber er hatte eben erst gehandelt, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war. An diesem Abend hatte das ganze Bein wie ein fauler Zahn gepocht, und er konnte unter der Haut die verräterischen roten Linien einer Blutvergiftung sehen, die von der Verletzung ausgingen, auf der sich gerade erst Schorf gebildet hatte.
Am 1. Juli war er wieder in der Praxis von Dr. Soames gewesen, hatte den Arzneimittelschrank durchwühlt und nach Penizillin gesucht. Er hatte welches gefunden und nach einigem Zögern beide Tabletten in der Probepackung geschluckt. Ihm war klar, daß er sterben würde, wenn sein Körper gegen das Penizillin allergisch reagierte, aber er dachte, die Alternative wäre ein noch schlimmerer Tod. Die Infektion raste, raste. Das Penizillin brachte ihn nicht um, verbesserte seinen Zustand aber auch nicht nennenswert.
Gestern nachmittag hatte er hohes Fieber gehabt; er vermutete, dass er größtenteils im Delirium gewesen war. Er hatte genug zu essen da, wollte aber nichts zu sich nehmen; er wollte nur eine Tasse destilliertes Wasser nach der anderen aus dem Spender trinken, der in Bakers Büro stand. Als er gestern abend eingeschlafen (oder bewußtlos geworden) war, war das Wasser fast verbraucht gewesen, und er hatte keine Ahnung, wo er frisches herbekommen konnte. In seinem fiebrigen Zustand war ihm das auch einerlei. Er würde bald sterben und sich keine Gedanken mehr machen müssen. Er war nicht versessen darauf zu sterben, aber die Vorstellung, keine Schmerzen oder Sorgen mehr zu haben, war sehr verlockend. Sein Bein pochte und juckte und brannte.
Sein Schlaf war ihm in den Nächten, nachdem er Ray Booth getötet hatte, gar nicht wie Schlaf vorgekommen. Seine Träume waren eine Sturzflut. Ihm schien, als würden alle, die er je gekannt hatte, auf einen Besuch zurückkommen. Rudy Sparkman, der auf das leere Blatt Papier deutete. Du bist dieses leere Blatt . Seine Mutter, die ihm geholfen hatte, Linien und Kreise auf ein anderes Blatt Papier zu kritzeln, wodurch dessen Reinheit versehrt wurde: Das heißt Nick Andros, Liebes. Das bist du . Jane Baker, die das Gesicht auf dem Kissen auf die Seite gedreht hatte und sagte: Johnny, mein armer Johnny. In seinem Traum bat Dr. Soames John Baker immer wieder, das Hemd auszuziehen, und Ray Booth sagte immer wieder: Haltet ihn fest... ich mach' ihn fertig... das Schwein hat mich geschlagen... haltet ihn fest... Anders als in in seinen sonstigen Träumen mußte Nick ihnen nicht von den Lippen lesen.
Er konnte richtig hören, was die Leute sagten. Die Träume waren unglaublich lebhaft. Sie verblaßten, wenn die Schmerzen in seinem Bein ihn ins Wachsein zurückriefen. Wenn er wieder in Schlaf versank, folgte eine neue Szene. In zwei Träumen kamen Menschen vor, die er noch nie gesehen hatte, das waren die Träume, an die er sich nach dem Aufwachen am deutlichsten erinnerte.
Er war an einem hohen Ort. Das Land erstreckte sich unter ihm wie eine Reliefkarte. Es war eine Wüste, und die Sterne über ihm besaßen die irre Klarheit hoher Luftschichten. Neben ihm war ein Mann... nein, kein Mann, sondern die Gestalt eines Mannes. Als wäre die Gestalt aus der Wirklichkeit herausgeschnitten worden und in Wirklichkeit nur noch das Negativ eines Mannes neben ihm, ein schwarzes Loch in Menschengestalt. Und die Stimme dieser Gestalt flüsterte: Alles, was du siehst, wird dir gehören, wenn du niederkniest und mich anbetest. Nick schüttelte den Kopf und wollte weg von dem gräßlichen Steilhang, weil er Angst hatte, die Gestalt könnte die schwarzen Arme ausstrecken und ihn über den Rand stoßen.
Warum sprichst du nicht? Warum schüttelst du nur den Kopf?
Im Traum machte Nick die Geste, die er im wachen Zustand schon so häufig gemacht hatte: Er legte einen Finger an die Lippen und die flache Hand an den Hals... und dann hörte er sich mit vollkommen klarer und wohlklingender Stimme sagen: »Ich kann nicht sprechen. Ich bin stumm.«
Du kannst. Wenn du willst, kannst du.
Nick streckte die Hand aus, um die Gestalt zu berühren, denn einen Augenblick war seine Angst wie weggefegt von Erstaunen und heller Freude. Aber als seine Hand sich der Schulter der Gestalt näherte, wurde sie eiskalt, so kalt, als sei sie verbrannt. Er riß sie
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