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The Stand. Das letze Gefecht

The Stand. Das letze Gefecht

Titel: The Stand. Das letze Gefecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Leben zu nehmen, wo so vieles ausgelöscht worden war, war eine unverzeihliche Sünde. Und sie konnte es ohne Hilfe nicht mehr lange allein mit Joe schaffen; mit ihm zu sein war, als wäre man mit einem launischen Löwen in einem Käfig eingesperrt. Und wie ein Löwe, konnte (oder wollte) Joe nicht sprechen; er konnte nur mit seiner hilflosen Kleinjungenstimme brüllen.
    Sie richtete sich auf und sah, daß der Junge immer noch bei ihr war. Er hatte sich im Schlaf ein wenig von ihr entfernt, das war alles. Er hatte sich wie ein Fötus zusammengerollt, den Daumen im Mund und die Hand um den Griff des Messers geklammert.
    Nachdem sie über das Gras gegangen war, Wasser gelassen hatte und wieder unter die Decke gekrochen war, schlief sie sofort wieder ein. Am nächsten Morgen war sie nicht sicher, ob sie in der Nacht wirklich aufgewacht war oder ob sie es nur geträumt hatte. Wenn ich geträumt habe, dachte Larry, dann müssen es gute Träume gewesen sein. Er konnte sich an keinen einzigen erinnern. Er fühlte sich fast schon wieder wie der alte Larry und dachte, der Tag würde schön werden. Noch heute würde er das Meer sehen. Er rollte seinen Schlafsack zusammen, schnallte ihn auf den Gepäckträger, ging zurück, um den Rucksack zu holen... und blieb stehen.
    Ein Betonweg führte zu den Verandastufen, und das Gras auf beiden Seiten war lang und unvorstellbar grün. Rechts, ganz dicht an der Veranda, war das taufeuchte Gras niedergetreten. Wenn der Tau verdunstete, würde sich das Gras wieder aufrichten, aber jetzt waren deutlich Fußspuren zu erkennen. Er war in der Stadt aufgewachsen und alles andere als ein Waldläufer (er hatte lieber Hunter S. Thompson als James Fenimore Cooper gelesen), aber man mußte blind sein, dachte er, nicht zu merken, daß sie zu zweit gewesen waren: ein Großer und ein Kleiner. Irgendwann in der Nacht waren sie zur Tür gekommen und hatten ihn beobachtet. Ihn fröstelte. Die Heimlichtuerei gefiel ihm nicht. Die ersten Vorboten neuer Angst noch weniger.
    Wenn sie sich nicht bald zeigen, beschloß er, werde ich versuchen, sie hervorzuscheuchen. Allein der Gedanke, daß ihm das gelingen könnte, brachte den größten Teil seines Selbstvertrauens zurück. Er schnallte den Rucksack über und machte sich auf den Weg. Gegen Mittag hatte er die US 1 in Wells erreicht. Kopf oder Zahl! Er warf eine Münze. Zahl. Er wandte sich auf der US1 nach Süden und liess die Münze gleichgültig im Staub funkeln. Joe fand sie zwanzig Minuten später und starrte sie an wie die Kristallkugel eines Hypnotiseurs. Er steckte sie in den Mund, und Nadine befahl ihm, sie auszuspucken.
    Zwei Meilen weiter sah Larry es zum ersten Mal, das riesige blaue Tier, das heute träge und langsam war. Es war ganz anders als der Pazifik oder der Atlantik von Long Island. Dort sah der Ozean friedlich aus, fast zahm. Dieses Wasser war von einem dunkleren Blau, fast kobaltfarben; gleichgültig rollten die Wogen ans Ufer, nagten an den Felsen. Gischt wie geschlagenes Eiweiß spritzte in die Luft und klatschte wieder zurück. Die Wellen donnerten mit unablässigem tiefen Grollen an die Klippen.
    Larry stellte sein Fahrrad ab, ging zum Meer hinunter und spürte eine seltsame Erregung, die er nicht erklären konnte. Er war hier, er hatte den Ort erreicht, wo die See die Herrschaft übernahm. Hier war der Osten zu Ende. Land's End.
    Er ging über eine sumpfige Wiese, und seine Schuhe machten schmatzende Geräusche im feuchten Boden zwischen Erdhügeln und Schilfbüscheln. Der durchdringende, fruchtbare Geruch der Flut hing in der Luft. Näher am Wasser war die dünne Haut der Erdschicht abgeschält, und der nackte Knochen aus Granit trat zutage - Granit, die »letzte Wahrheit« von Maine. Möwen stiegen hellweiß vor blauem Grund zum Himmel, kreischten und wimmerten. Er hatte noch nie so viele Vögel auf einmal gesehen. Ihm fiel ein, daß diese Vögel trotz ihrer weißen Schönheit Aasfresser waren. Der Gedanke, der sich anschloß, war unaussprechlich, aber er hatte ihn schon gedacht, bevor er ihn verdrängen konnte: Sie müssen in letzter Zeit reiche Ernte gehalten haben.
    Er ging wieder weiter; jetzt klickten und kratzten seine Schuhe auf von der Sonne getrockneten Felsen, die wegen der Brandung in ihren Rissen und Fugen dennoch immer feucht bleiben würden. Entenmuscheln wuchsen in diesen Rissen, und hier und da lagen wie zerfetzte Knochensplitter die Schalen, die die Möwen fallengelassen hatten, um an das weiche Fleisch im Innern

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