The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition)
schützen, riegelte die Armee die Bogside ab, wie man es sonst nur zu Quarantäne-Kontrollzwecken tun würde.
Meine Freunde und ich machten uns einen Spaß daraus, so oft wie möglich diese Kontrollstationen zu passieren und mit den Soldaten zu streiten, die dort Dienst taten. Unsere Namen notierten wir als Mickey Mouse und Donald Duck, mit erfundenen Adressen. Sie merkten es nicht einmal. Aber ich war wie die meisten Katholiken ziemlich verärgert, und das umso mehr, als ich diese Armee erst vor wenigen Tagen als segensreich willkommen geheißen hatte, weil ich glaubte, sie würde uns Katholiken gegen die vollkommen durchgedrehte Unionisten-Polizei verteidigen. Von da an war meine Aufgeschlossenheit verschwunden, und ich nahm es der Armee übel, dass sie auf den Straßen allgegenwärtig war.
Die grundlegende Lektion, die ich während dieser so heftigen Straßenschlacht gelernt hatte, war, dass jeder bereit war, Gewalt anzuwenden oder zumindest als letztes Mittel stillschweigend zu dulden. Niemand unter uns äußerte Kritik an der gewaltsamen Verteidigung der Bogside; anscheinend hatte sich jeder daran beteiligt. Gruppen und Komitees hatten die Gewalt organisiert und für ihre Akzeptanz gesorgt, indem sie sie als absolut kontrollierbar darstellten. Die Regierung von Irland hatte ihre Bereitschaft angedeutet, uns gewaltsam zu unterstützen. In Derry galten diejenigen, die sich an vorderster Front in größte Gefahr begaben, als die allergrößten Helden der Stadt. Sie wurden bereits in Liedern und Erzählungen verherrlicht. Ich wollte zu den Helden gehören, und Gewaltanwendung zu beherrschen war offensichtlich eine wichtige Voraussetzung dafür.
Als bedeutsamste Nachricht erschien mir 1969 die Tatsache, dass sich die nicht mehr aktive IRA in Belfast gespalten hatte. Dies war eine Reaktion darauf, dass es dort notwendig geworden war, die Katholikenviertel mit Schusswaffen zu verteidigen. Eine Wandschmiererei war aufgetaucht, die die Buchstaben I R A als Abkürzung für den Satz „I RAN AWAY (Ich bin abgehauen)“ darstellte. Daran konnte man erkennen, wie unzufrieden die Katholiken in Belfast mit der IRA waren, nachdem die Polizei und protestantische Randalierer katholische Ghettos attackiert hatten.
In Belfast waren Katholiken klar in der Minderheit, und ihre Lage hatte sich ganz schrecklich zugespitzt. In manchen Straßen hatten protestantische Krawallschläger anscheinend mit Hilfe der Polizei Häuser von Katholiken niedergebrannt. Die Polizei hatte Browning-Maschinengewehre aufgestellt und die Häuser unter Beschuss genommen, wobei ein kleiner Junge in seinem Bett schlafend getötet und weitere Katholiken verwundet oder erschossen worden waren. Hunderte von Menschen waren aus ihren Häusern geflohen.
Man hörte Geschichten von einer Handvoll IRA-Männer, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um mit ein paar kaum noch tauglichen Gewehren und sehr wenig Munition die besser bewaffneten Polizisten und Randalierer aufzuhalten, und die dabei einige Angreifer erschossen hatten.
Die Vorstellung, dass Menschen ihr Leben riskierten, um andere zu verteidigen, faszinierte mich ebenso wie die Nachricht, dass sich eine neue „Provisional IRA“ gebildet hatte, obwohl es gut möglich war, dass sich daraus eine blutige Fehde mit der Mutterpartei, jetzt „Official IRA“ genannt, ergeben könnte. Diese neue Gruppe, die man kurz „die Provos“ nannte, wurde von Anfang an als eine Armee dargestellt, die bereit war, im Bedarfsfall Waffen einzusetzen. Anders als die kommunistische Official IRA bestand sie aus überzeugten Katholiken und Patrioten und gab sich defensiv und kriegerisch. Ich verehrte diese Helden aus der Ferne. Es konnte meiner Meinung nach keine größere Liebe geben als die, die einen dazu bewegte, sein Leben für sein Volk und sein Land zu geben. Zu dieser Zeit bedeutete Patriotismus für mich, mein Leben zu geben, nicht das Leben anderer ... Es kam mir nie in den Sinn, dass Protestanten auch ein berechtigtes Anliegen hatten und ebenfalls Patrioten waren.
Und wieder biss ich mir wie in den Tagen meiner Kindheit die Zähne an dieser harten Nuss aus: Wenn die IRA eine Geheimorganisation mit lauter ebenso geheimen Mitgliedern war, wie konnte man ihr dann zu verstehen geben, dass man bereit war, ihr beizutreten? In Derry war es schwierig, eine Antwort auf diese Frage zu finden, da man hier die Schlacht ganz ohne IRA-Gewehre gewonnen hatte und sich also keine IRA-Leute entdecken ließen.
Also begann ich, alle
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