The Walk: Durch eine zerstörte Stadt (German Edition)
sein kopfloser Körper war über dem schwelenden Akkupack zusammengesackt.
Er schaute weg, abgestoßen und in Panik. Im Krieg, dachte Marty, musste wohl irgendwann der Zeitpunkt kommen, ab dem eine Person unempfindlich wurde gegenüber Massensterben und gewaltsamem Tod, wenn das, was sie durchmachen musste, sich von etwas Ungewöhnlichem und Schockierendem in etwas Gewöhnliches verwandelte, etwas, womit man rechnete.
Dieser Zeitpunkt war für ihn noch nicht gekommen. Er wünschte, dieser Zeitpunkt würde sich beeilen und bei ihm ankommen, andernfalls wollte er wenigstens von neuen Spielarten des Themas verschont bleiben. Marty war sich nicht sicher, wie viel er noch ertragen konnte.
Der schlechte Zustand seiner geistigen Gesundheit war fast körperlich spürbar, wie ein Gelenk, das schon zu weit überstreckt worden war. Er wusste, er war kurz davor durchzudrehen, doch anders als bei einem gerissenen Band oder einem gebrochenen Knochen hatte er keine Ahnung, welche Konsequenzen er zu erwarten hatte, falls dieser Fall eintreten sollte.
Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm.
Vielleicht wäre es wie eine angenehme Taubheit, eine glückselige Abspaltung vom direkten Kontakt mit der Wirklichkeit.
Vielleicht aber auch nicht.
Es könnte bedeuten, jegliche Wahrnehmung eines Selbst, jeglichen Verstand zu verlieren. Er könnte als wimmernder Idiot enden, der stumpfsinnig durch die Trümmer stolperte.
Und dann würde er es nie bis nach Hause schaffen.
Hör auf, so ein Weichei zu sein. Leute sterben schreckliche, groteske und schmerzhafte Tode genau vor deinen Augen. Na und? Sei froh, dass es nicht dich erwischt hat, und mach weiter.
Seit Neuestem klang die Stimme in seinem Kopf immer mehr nach Buck, und doch schien sie ihm seltsamerweise immer mehr einzuleuchten.
Um damit klarzukommen, beschloss er, musste er den Tod klinisch betrachten, so wie ein Gerichtsmediziner es tut. Wenn ein Gerichtsmediziner eine Leiche begutachtet – ob sie nun von einem Zug erwischt wurde, von Haien zerfetzt, von einer Axt zerstückelt, in einem Autounfall entstellt oder eine Woche lang in der Sonne verwest und von Maden befallen war –, verursacht es ihm keine Übelkeit und es entsetzt ihn auch nicht. Warum? Weil es kein menschliches Wesen mehr ist. Es ist ein Objekt, ein Abfallprodukt, ein Ding. Ein fleischiger Sack voller Organe und Knochen, das einem Lebewesen bloß ähnelt.
Marty müsste sich nur in den entsprechenden Gemütszustand versetzen.
Aber ihm wurde klar, dass Gerichtsmediziner einen klaren Vorteil hatten, den er nicht hatte. Sie wurden selten Zeuge des Tötens, des Moments, in dem eine Person aufhört, eine Person zu sein und zu einer Leiche wird.
Andererseits waren Millionen von Soldaten über Zehntausende von Jahren mit diesem Moment auf dem Schlachtfeld klargekommen. Und die meisten von ihnen verloren nicht den Verstand. Wie schwer konnte es wohl sein?
Sei ein verdammter Mann.
Ja, dachte Marty. Das ist genau das, was ich tun werde. Ein verdammter Mann sein.
Er drehte sich um und blickte nach Norden auf das, was vom Rodeo Drive übrig geblieben war. Die ersten paar Blocks entlang brannten Häuser auf beiden Seiten der Straße, und verkohlte Leichen lagen auf den Gehwegen verstreut.
Sei ein verdammter Mann.
Marty nahm einen Zipfel seiner nassen Jacke, hielt ihn wie ein Cape vor sein Gesicht und schleppte sich quer über das geschwärzte Gras in die Rauchschwaden.
KAPITEL DREIZEHN
Über die Hügel und durch die Wälder
14:42 Uhr. Mittwoch.
Die Statuen hatten Schamhaare.
Es handelte sich nicht um die von irgendeinem Künstler gemeißelte Interpretation von Schamhaar, sondern um tatsächliches Haar unbekannter Herkunft, das auf die mit Hammer und Meißel geschaffene Schamgegend von rund einem Dutzend steinerner Nackter geklebt worden war. Davon abgesehen wäre die Reihe kitschiger Statuen, die den oberen Rand der Mauer um das Schloss am Sunset Boulevard säumten, nicht der Erwähnung wert.
Als Marty Slack, frisch eingetroffen aus Nordkalifornien, um sein erstes Studienjahr an der UCLA anzutreten, diese Statuen vor zwanzig Jahren vom Vordersitz seiner überhitzten Chevette aus das erste Mal sah, wusste er mit Gewissheit, dass er in Los Angeles angekommen war.
Die Mauer stand immer noch, nur dass sie jetzt mit neuen Rissen durchzogen war und ein leer stehendes Grundstück voll hohem, trockenem Gras umgab. Die Statuen und das Schloss waren schon lange verschwunden, doch sie lebten zweifellos in den Fotoalben
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