The Walk: Durch eine zerstörte Stadt (German Edition)
von Tausenden von Touristen weiter.
Die Hausbesitzer am Sunset wollten, dass ihre Anwesen fotografiert wurden, und zwar nicht vom Architectural Digest , sondern von Busladungen von Touristen, und sie unternahmen enorme – und teure – Anstrengungen, damit diese Schnappschüsse gemacht wurden.
Das leidenschaftliche Wetteifern um die wohlwollenden Blicke der Touristen ließ den Sunset Boulevard oft aussehen wie eine bewohnte Version des Las Vegas Strip, nur ohne die All-you-can-eat-Buffets.
Um zu einer Attraktion des Bürgersteigs zu werden, reichte es nicht aus, eine verschwenderische Architektur und üppige Gartenanlagen vorweisen zu können oder glänzende Limousinen und italienische Sportwagen um einen Springbrunnen herum zu parken. Extravaganz, Überfluss und das unentgeltliche Zurschaustellen von Wohlstand waren bloß der Anfang.
Einige der Hauseigentümer machten sich nur an den Feiertagen auf die unverhohlene Jagd nach dem schnappschussbedingten Ruhm, wenn sie ihren Rasen und die Dachrinnen mit Hunderten von blinkenden Lichtern, aufwendigem Blumenschmuck und raffinierten, plastisch wirkenden Dioramen schmückten, die Walt Disney vor Neid hätten erblassen lassen.
Andere wiederum engagierten sich längerfristig und strebten danach, ein dauerhafter Zwischenstopp auf der Hollywood-Stars-Tour zu werden, erhielten jedoch gleichzeitig den falschen Schein aufrecht, ihr eigenes Privatleben wertzuschätzen, indem sie kleine »Nicht betreten«-Schilder in ihren Vorgarten steckten.
Einer dieser Hausbesitzer verzierte die ringförmige Zufahrt vor den weißen Mauern, die sein Grundstück abschirmten, mit unglaublich lebensechten Bronzestatuen – allerdings waren sie bekleidet und hatten vermutlich keine Schamhaare, ob nun echte oder andere. Am Anfang hatte er lediglich einen uniformierten Wachmann am Tor postiert, dann erweiterte er sein Repertoire an Statuen zügig um einen Gärtner, einen Maler, einen Jogger, spielende Kinder und, für den Fall, dass jemandem die subtile Intention hinter seinen Bemühungen entgangen war, ein Touristenpärchen, das die ganze Pracht fotografierte.
Marty saß vor diesem Haus auf dem robusten, holzgeschnitzten »Privateigentum«-Schild und ruhte sich aus. Er wusste nicht, ob das Haus hinter den Mauern noch stand, und es interessierte ihn auch nicht, die hohen Bäume hinter der Mauer schirmten es vor Blicken ab. Doch er war froh, dass die Statuen überlebt hatten, denn für seine Begriffe verkörperte nun nichts in der Stadt das wirkliche L. A. treffender als eben diese.
Ausgenommen vielleicht die Statuen mit Schamhaar, doch leider waren die schon längst verschüttgegangen. Er dachte sich, jemand hätte Lobbyarbeit betreiben sollen, um sie als historisches Wahrzeichen schützen zu lassen. Sie bedeuteten ihm etwas, wenn schon niemand anderem, auch wenn er sie bis jetzt nicht wirklich vermisst hatte.
Obwohl er während der letzten zwanzig Jahre schon unzählige Male über den Sunset gefahren war, fühlte es sich dieses Mal irgendwie an, als würde er den Weg zurückverfolgen, den er genommen hatte, als er von San Francisco hierhergekommen war, als er noch voller Träume und Pläne gewesen war, die sich bis heute nicht erfüllt hatten.
Seine Melancholie wurde durch seinen körperlichen Zustand nur noch verstärkt. Noch nie zuvor hatte er mit so vielen verschiedenartigen Beschwerden auf einen Schlag zu kämpfen gehabt.
Sein Rücken glühte, seine Schnittwunden brannten, seine Schulter pochte und seine Haut juckte unter den verkohlten, klammen und vor Schmutz strotzenden Klamotten. Jeder Muskel in seinem Körper war wund, und seine Füße fühlten sich an, als wären sie auf das Doppelte ihrer normalen Größe angeschwollen. Ihm war heiß, er hatte Hunger und er schwitzte am ganzen Körper.
Und dann waren da all diese toten Gesichter, die einfach nicht in seinem Kopf begraben bleiben wollten und immer wieder kurz in seinem Bewusstsein aufblitzten wie Werbespots.
Die Erinnerungen, die Erschöpfung und der Schmerz wurden zu einem fast greifbaren Gewicht, das er am ganzen Körper spüren konnte. Das musste der Grund sein, warum so viele alte Leute gebückt gingen, dachte Marty. Siebzig Jahre lang diese Scheiße zu ertragen, musste ein ganz schön schweres Päckchen sein.
Also hatte er angehalten, um eine Pause zu machen, um seinen Kopf klar zu kriegen, um seine Kräfte für die nächste Etappe seiner Reise über den Sepulveda-Pass in Stellung zu bringen. Er wusste, dass die Hügel in
Weitere Kostenlose Bücher