The Walking Dead 3: Roman (German Edition)
beinahe flüsternd, als ob er sich selbst davon überzeugen müsste.
Elf
D er Regen will einfach nicht aufhören. Eine wahre Sintflut, die drei Tage anhält, ergießt sich über das südliche Georgia. Die Wetterlage ändert sich erst Mitte der Woche und hinterlässt flutartige Überschwemmungen und umgestürzte Starkstrommasten, eine Verwüstung, die sich bis zur Ostküste hinzieht. Die Erde in der Umgebung von Woodbury ist völlig durchweicht, überall lauern Schlammlöcher und Wasserschäden. Die brachliegenden Ackerflächen südlich der Stadt sind derart mit Regen vollgesogen und überflutet, dass die Männer auf dem Verteidigungswall den Beißern zuschauen können, wie sie aus dem versumpften Wald getrieben werden, nur um sich im Dreck der Felder wie gigantische Blutegel zu suhlen. Für Martinez und seine Männer an den .50-Kaliber-Geschützen an den nord- und südöstlichen Ecken der Barrikade ist es, als ob sie Fische in einem überfüllten Aquarium abknallen. Aber außer diesen lauten, grässlichen Begleiterscheinungen der Abfallbeseitigung – wie der Governor zu sagen pflegt – schlummert Woodbury in beinahe unheimlicher Stille tagelang vor sich hin, und Lilly bemerkt erst am Ende der Woche, dass hier irgendetwas nicht ganz richtig ist.
Bis dahin lässt sie sich nichts zuschulden kommen, verbringt die meiste Zeit zu Hause und hält sich an Martinez’ Anweisungen, jegliches Gerede über die unsichtbaren Fremden in ihrer Mitte für sich zu behalten. Sie verbringt die Tage mit Lesen oder Nachdenken, während sie dem nie enden wollenden Regen zusieht. Des Nachts liegt sie wach auf ihrem kaputten Futon und zerbricht sich den Kopf darüber, wie sie die Situation mit Austin angehen soll. Donnerstagabend steht er dann auf einmal vor ihrer Tür, in der einen Hand eine Flasche Wein, die er aus dem alten Warenlager in der Nähe des Gerichts hat mitgehen lassen, und in der anderen einen Silberstrauch, den er vor der alten Post gepflückt hat. Die Geste allein geht ihr so nahe, dass sie ihn hereinbittet, aber nur unter der Bedingung, dass er nicht über ihre Beziehung oder über die Nacht redet, in der sie zu weit gegangen sind. Aber er scheint einfach nur glücklich zu sein, etwas Zeit mit ihr verbringen zu können. Sie leeren die ganze Flasche Wein und spielen Pictionary – Austin schafft es, Lilly derart zum Lachen zu bringen, dass ihr die Spucke aus dem Mund läuft, als er ihr eine Zeichnung von einem Spiegelei zeigt, aber behauptet, dass es sich um sein Gehirn auf Drogen handelt –, und er verlässt sie erst, als die ersten grauen Strahlen des Morgens auf den mit Dielen verschlagenen Fenstern spielen. Am nächsten Tag muss Lilly sich selber eingestehen, dass sie den Typen mag – ganz gleich, wie unpassend die Umstände sein mögen. Und vielleicht, aber auch nur vielleicht, könnte sie sich auf etwas einlassen.
Dann kommt Sonntagmorgen. Die fatale Nacht ist jetzt genau eine Woche her. Lilly schreckt plötzlich vor der Morgendämmerung aus dem Schlaf. Ein ungeformter, roher Gedanke in ihrem Hinterkopf will sie einfach nicht loslassen, und aus irgendeinem Grund – vielleicht etwas, das sie geträumt hat, oder etwas, das sich im Laufe der Woche langsam aus ihrem Unterbewusstsein nach oben vorgearbeitet hat – trifft es sie an diesem Morgen wie ein Hammerschlag mitten zwischen die Augen.
Sie hüpft aus dem Bett und eilt durch das Schlafzimmer auf einen Ordner zu, der auf ihrem behelfsmäßigen Schreibtisch aus zwei Porenbetonsteinen und einer Spanplatte liegt. Fieberhaft wühlt sie durch die Blätter.
»O nein … nein, nein, nein«, faucht sie leise, als sie nach ihrem Kalender sucht. Beinahe ein ganzes Jahr lang hat sie immer gewusst, welches Datum es ist. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie will wissen, wann die Feiertage sind, will die Jahreszeiten im Auge behalten, aber am wichtigsten für sie ist, dass sie nicht den Kontakt mit der Realität verliert, mit der alten Ordnung, mit zivilisiertem Leben, mit der Normalität. Sie will den Überblick über die Zeit behalten – es gibt schon zu viele, die es in dieser dunklen Ära aufgegeben haben, die nicht wissen, ob Weihnachten, Ramadan oder Jom Kippur ist.
Sie schielt auf das Datum und schließt ihren Kalender dann mit Wucht.
»Ach du Scheiße … Fuck … Verdammte Scheiße!«, murmelt sie, geht einen Schritt zurück und dreht sich so rasch um, als ob der Boden unter ihren Füßen zu verschwinden droht. Dann zieht sie nervöse Kreise
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