Themiskyra – Das Versprechen (Band 2) (German Edition)
ich an meiner Mutter vorbei auf ihn zu rannte.
Dann brach der Sturm los. Alle Geräusche, die sich der Wald zuvor aufgespart hatte, stürzten auf mich ein, ein heulender, orkanartiger Wind blies mir entgegen und mit jedem Schritt, den ich auf Louis zulief, wurde ich weiter von ihm weggetrieben. Nur Atalante stand unberührt von der Naturgewalt an Ort und Stelle und betrachtete grimmig mein sinnloses Bemühen. Ich streckte die Hand nach ihr aus, in der Hoffnung, dass sie mir helfen und mich in ihre vergleichsweise windstille Zone ziehen würde, aber sie schüttelte erbarmungslos den Kopf.
„Du hast deine Wahl getroffen. Jetzt sieh selbst zu, wie du damit fertig wirst.“ Ihre Stimme schnitt sich glasklar durch das Toben des Sturms.
Ich kämpfte mit aller Kraft, kam jedoch keinen Zentimeter weiter. Tränen strömten mir übers Gesicht, meine Beine fühlten sich an, als würde Blei statt Blut in ihren Adern fließen und mein Herz brannte lichterloh vor Schmerz und schlechtem Gewissen.
Dann gab ich auf. Ich stolperte rückwärts in die Finsternis, taumelte mit dem Wind, statt gegen ihn und ließ mich von ihm wegtreiben, weg von meiner Mutter, weg von Louis. Beide verschwanden im Dunkel zwischen den Bäumen. Die Sehnsucht nach ihm zog so an meiner Seele, dass ich glaubte, sie würde zerreißen.
Auf einmal prallte ich mit dem Rücken gegen jemanden, drehte mich um und stellte fest, dass es mein Vater war. Wie meine Mutter schien er die Auswirkungen des Orkans nicht zu spüren, er stand da wie der Fels in der Brandung und hielt mich fest, damit ich nicht stürzte.
„Ell“, sagte er und lächelte. So, als hätten wir uns nur kurz auf einem Bummel durch die Stadt aus den Augen verloren, so als wolle er sagen Da bist du ja. Es tat unglaublich gut, ihn wiederzusehen.
„Papa, was ist hier los?“ Meine Stimme schlug vor Verzweiflung um.
Er sah sich um, wie um die Wetterlage zu prüfen, und sagte leichthin: „Das ist doch nur ein Traum.“
„Ein Traum?“, fragte ich fassungslos.
„Ein Traum“, bestätigte er. Er begann zu verblassen, aber ich wollte nicht, dass er ging, und klammerte mich an ihn. „Nur ein Traum“, wiederholte er, während er mir beruhigend die Schulter tätschelte, und seine Stimme verzog sich wie eine zu schnell angetriebene Schallplatte.
„Ein Traum!“, rief Polly.
Ich riss die Augen auf und blinzelte gegen Tränen und die jähe Helligkeit an, die mich auf einmal umgab.
Sie hatte ihre Arme um mich geschlungen und streichelte mir den Rücken, wie kurz zuvor mein Vater. Im Traum, sagte ich mir. Aber mein Körper steckte immer noch dort fest: Mein Puls war in Aufruhr, mein Gesicht tränennass und mein Herz tat weh. Und mein Bein, dort, wo es auf der Flucht vor Lenno an der Baumrinde entlanggeschrappt war. Im Traum.
Kapitel 6
Unter Pollys fragendem Blick entwand ich mich hastig ihrer Umarmung, zappelte die Decke weg und untersuchte meinen linken Unterschenkel. Vom Knie an zog sich an der Innenseite eine etwa fünfzehn Zentimeter lange Abschürfung abwärts.
Nur ein Traum? Louis! Mit diesem panischen Gedanken machte ich einen Satz aus dem Bett und begann mir kopflos irgendwelche Kleidungsstücke überzuwerfen.
„Ell!“ Meine Schwester packte mich fest am Arm. „Was ist denn nur los?“
„Ich muss zu Louis.“
„Jetzt?!“
„Jetzt. Sofort.“
„Warum?“
„Ich muss wissen, ob es ihm gut geht.“
„Natürlich geht es ihm gut“, versuchte sie mich zu beruhigen. „Du hast nur schlecht geträumt.“
„Nein, das war mehr …“ Ich konnte ihr das jetzt nicht erklären, ich hatte keine Zeit. Also zeigte ich nur auf meinen abgeschürften Unterschenkel. „Das ist mir im Traum passiert.“
Polly zog mir kurzerhand mein Bein vom Boden weg, um es kritisch zu inspizieren. Das stoppte meine Hektik zwangsläufig, weil ich mich an der Schranktür festklammern musste, um nicht umzufallen.
„Das ist alt“, stellte sie fest.
„Wirklich?“
„Ja. Da ist es schon halb verheilt, siehst du? Und da ist Schorf.“
Misstrauisch beäugte ich die Bereiche, auf die sie zeigte, und musste ihr recht geben. Ich konnte mich nicht erinnern, mich beim Kampf mit den Marodeuren an dieser Stelle verletzt zu haben, aber vielleicht hatte ich es im Eifer des Gefechts und der darauffolgenden Schockstarre einfach nicht bemerkt. Wahrscheinlich hatte ich den Schmerz einfach in meinen Traum eingebaut.
„Trotzdem. Ich muss nach Louis sehen“, beharrte ich eisern und schlüpfte in meine
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