Themiskyra – Die Begegnung (Band 1) (German Edition)
Raum nebenan drangen Stimmen an mein Ohr. Die Räume waren normalerweise nicht sehr hellhörig, was dafür sprach, dass die Besitzerinnen der Stimmen sich eine hitzige Diskussion lieferten. Hatten Rehani und Padmini etwa Krach? Ich wusste, dass die beiden sich manchmal nicht ganz grün waren, weil Rehani sich gerne etwas auslieh und vergaß, vorher zu fragen oder es nachher zurückzugeben. Unbewusst spitzte ich die Ohren, aber ich vernahm keine einzelnen Worte, sondern nur wütende Laute. Der aggressive Ton der Unterhaltung setzte mir zu und ich begann, mich unbehaglich zu fühlen. Überall Krieg und Streit und Hass. Selbst hier. Ich zog mir eine meiner Decken über die Ohren.
Aber das half nichts und nach einer Weile wurden ein paar Sätze mit solcher Heftigkeit hervorgebracht, dass sie deutlich durch die Daunenfüllung meiner Bettdecke drangen. Nicht Rehani war es, mit der Padmini sich stritt, begriff ich plötzlich, sondern Areto.
„Ich dulde keine Widerrede. Ich bin deine Mutter, du hast mir zu gehorchen“, donnerte sie.
Harte Worte , dachte ich. Aber das lag daran, das Themiskyra sowohl eine Gemeinschaft von Familien als auch ein kleiner Staat war. Manche schafften es offensichtlich nicht, das eine vom anderen zu trennen und meinten, die übliche Befehlskette und der entsprechende Wortschatz griffe auch im Umgang mit Familienmitgliedern.
Was ist da nur los? Ich schlug die Decke wieder zurück. Ein bisschen neugierig war ich schon.
„Nein!!!“ Etwas knallte gegen die Wand und zersplitterte. Ich zuckte zurück und überlegte gerade, ob ich nicht doch zu Hilfe humpeln sollte, da klapperte es vor der Tür. Zwei Sekunden später kam Polly mit einem Tablett ins Zimmer. Sie kickte die Tür schwungvoll mit dem Fuß zu und als sie krachend ins Schloss fiel, vernahm ich erleichtert, dass die Stimmen verstummten – den beiden Amazonen nebenan war offenbar bewusst geworden, dass sich nun jemand in Hörweite befand.
„Geht's dir besser?“, fragte Polly, setzte sich zu mir und reichte mir die erste von ungefähr sieben Glasfüllungen Wasser.
Ich nickte und trank und trank und trank. „Danke, dass du nichts verraten hast“, sagte ich, während sie das Glas nachfüllte.
„Ich nehme an, du meinst diese abartige Verletzung?“ Sie sah mich misstrauisch an. „Was hast du gemacht? Bist du in eine Bärenfalle getreten?“
„So ähnlich“, murmelte ich.
Sie schwieg und ich trank. Erst als sie mir nach ein paar Minuten das Glas abnahm, fragte sie: „Warum wolltest du weg?“ Ihre Stimme klang brüchig.
Ich wich ihrem verletzten, aber auch anklagenden Blick aus und suchte nach den richtigen Worten. „Alles ist schiefgelaufen.“
„Was ist schiefgelaufen?“, erkundigte sie sich jetzt sanfter.
„Atalante kann mich nicht akzeptieren, wie ich bin. Sie will, dass ich so werde wie ihr, aber ich bin nicht so. Und selbst wenn ich wollte, könnte ich es nicht.“ Das gesamte Elend des Vortags schlug über mir zusammen, kalt und dunkel wie die Fluten, die mich fast das Leben gekostet hatten. Ich brach in Tränen aus. Pollys Blick war voller Anteilnahme und sie tätschelte mir den Arm, während ich zwischen Schluchzern hervorbrachte: „Ich bin gar keine Amazone. Ich kann gar nichts. Ich werd's auch nicht lernen. Niemals.“
„Tianyu?“, fragte meine Schwester nur.
Ich nickte frustriert, aber auch erstaunt.
„Sie hat die Gabe, einem das einzureden“, erklärte sie.
„Sogar dir?“
„Natürlich. Allen. Sie würde sogar an Atalantes Stil herumkritteln, wenn sie sich trauen würde. Manchmal kannst du es ihr einfach nicht recht machen. Hör nicht auf sie.“
„Trotzdem“, schniefte ich. „Ich gehöre nicht hierher. Mein Streit mit Atalante hat mir das völlig klar gemacht. Sie erwartet etwas von mir, das ich gar nicht erfüllen kann. Ich bin einfach keine Amazone.“ Neue Tränen kullerten mir über die Wangen.
„Unsinn! Glaubst du nicht mehr, dass du meine Schwester bist?“
„Doch. Schon“, räumte ich schluchzend ein. „Aber es ist zu spät. Ich kann das alles nicht mehr lernen. Ich hab zwölf Jahre vertrödelt!“, wiederholte ich Fridas Worte und gab einen Stoßseufzer von mir. „Ich kann dir mindestens fünf verschiedene Wege vom Staatsmuseum zum Hauptbahnhof, die Endhaltestellen von über siebzig Prozent der ehemaligen Citeyer Buslinien und hundert Prozent der Filmtitel mit Steve Bonanno aufzählen, ich bin unter den ersten fünfzig in der Online-Weltrangliste von Dance Star 3000 auf der PS
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