Themiskyra – Die Suche (Band 3) (German Edition)
versuchen.“ Damit wandte er sich ab und wuchtete zwei Säcke mit Mehl, einen mit Kartoffeln, einen Laib Käse und eine Steige Tomaten auf die Ladefläche, offenbar die Dinge, die er gegen die Metallwaren getauscht hatte.
Die Mischung aus Hilflosigkeit und Stolz, die in mir aufwallte, kannte ich zu gut. Sie war es gewesen, die mich in meiner Anfangszeit aus Themiskyra hatte fliehen lassen, nur um beinahe in einem verlassenen Wasserkraftwerk zu ertrinken. Auch jetzt wäre ich am liebsten auf und davon gelaufen – aber dann schluckte ich mit Mühe meinen Ärger herunter. Auch wenn es eine Sache war, die meiner Meinung nach uns alle etwas anging, war ich nur ein Gast bei den Neristas. Ich hatte bei ihnen nichts zu sagen. Ich hatte eine andere Mission. Erst Louis finden, dann die Welt retten.
„Verne hat mir erzählt, dass Du eigentlich Tierarzt bist“, bemühte ich mich, das Thema zu wechseln.
„Ich habe aber nie als Tierarzt gearbeitet“, erklärte er fast verlegen. „Ich habe fertigstudiert, aber nie praktiziert, weil ich es nicht übers Herz gebracht hätte, den Tieren wehzutun, geschweige denn, sie in den aussichtslosen Fällen einzuschläfern. Nur im Zoo habe ich für ein paar Monate lang als Tierpfleger ausgeholfen.“
„Gut, dass du es übers Herz gebracht hast, Ces zu operieren.“
„Das ist was anderes, damit habe ich kein Problem. Menschen, abgesehen von Kindern, haben nie die Unschuld von Tieren.“
„Wie hast du dann dein Geld verdient?“
„Ich habe Zeitschriftenabos verkauft.“
„Zeitschriftenabos“, wiederholte ich und das Wort klang seltsam in meinem Mund. Daran hatte ich fünf Jahre lang keinen Gedanken mehr verschwendet.
„War ein gutes Geschäft.“
„Wie bist du zu den Arkadiern gekommen?“
„Größtenteils Zufall. Nach dem Verfall haben wir uns mehr schlecht als recht durchgeschlagen, von der Hand in den Mund gelebt. Eines Nachts sind wir in der Hoffnung auf Nahrung ins Arcadia einstiegen und Verne hätte uns fast eins mit der Rohrzange übergebraten.“ Er grinste. „Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
„Wir?“ Ich dachte unbewusst, er meine damit sich und Chiara, weil sie bei der Operation am Abend zuvor und heute auf dem Markt ein so eingespieltes Team gewesen waren. Doch zu meiner Überraschung sagte er: „Will und ich.“
„Will?“
„Er ist mein Neffe.“
„Oh.“ Obwohl ich eigentlich nichts vom Schicksal seiner restlichen Familie wissen wollte, weil ich ahnte, dass, wie überall, eine traurige Geschichte dahintersteckte, hörte ich mich fragen: „Was ist mit seinen Eltern?“
Munin drehte eine Weile die Tomaten in der Steige hin und her, bevor er gleichmütig antwortete: „Eric, mein Bruder, hatte die Spedition von unserem Vater übernommen, der die Firma in den 1950er Jahren aus dem Nichts hochgezogen hatte. Das Geschäft lief jahrzehntelang gut – solange es genug Treibstoff gab. Für Will als Einzelkind stand fest, dass er in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters treten würde. Er fuhr selbst aus, half beim Beladen und in der Verwaltung. Dann wurde der Sprit immer teurer, irgendwann unbezahlbar. Eric musste zwangsläufig die Preise erhöhen und immer weniger Kunden konnten es sich leisten, Fuhrunternehmen zu beauftragen. Er verkaufte alles, was er hatte, um seine Angestellten weiter bezahlen zu können, und war schließlich doch gezwungen, sie nach und nach zu entlassen, bis nur noch Will und er als Fahrer übrig waren. Irgendwann blieben die Aufträge ganz aus. Dass das Benzin nicht mehr zu bezahlen war, spielte dabei schon keine Rolle mehr – Tatsache war, dass es einfach nichts mehr zu transportieren gab, weil die Industrie nichts mehr herstellte. Für meinen Bruder brach eine Welt zusammen. Er hatte sein Leben, seine Zeit, sein ganzes Vermögen in die Firma investiert …“ Munin sah auf. „Will fand Eric in der Nacht auf den dritten Februar, dem Tag des 65jährigen Firmenjubiläums – wenn es irgendetwas zu feiern gegeben hätte. Er hatte sich im Dachboden der Spedition aufgehängt.“
Munin klang immer noch ruhig, aber ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte. „Das tut mir leid.“
Er lächelte, ein kleines angespanntes Lächeln. „Danke.“
„Wie kann Will … so fröhlich sein? So sorglos? Nach dem, was er erlebt hat?“
„Wie kann überhaupt noch jemand lachen in dieser Welt?“, fragte er zurück. „Entweder du zerbrichst an deinen Verlusten oder, so hart das klingen mag, du ziehst
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