Theo Boone - Der Überfall: Band 4 (Heyne fliegt) (German Edition)
Contra abgewogen und schließlich seine Entscheidung getroffen. Er tat nichts Unrechtes. Vielleicht war es keine lupenreine Aktion, aber ihm konnte nichts passieren. Vor allem aber bestand die Chance, dass er damit die Umgehungsstraße verhinderte, die Farm der Quinns rettete, den Kindern verschmutzte Luft ersparte und vieles mehr. Theo war davon überzeugt, dass er richtig handelte.
Besser gesagt, er war überzeugt gewesen– in der Schule, in der Kanzlei und als er mit dem Rad zum Briefkasten fuhr. Als er jedoch anhielt und die Briefe aus dem Rucksack holte, hörte er eine innere Stimme.
Wirf die Briefe nicht ein. Es ist falsch, und das weißt du auch. Du verwendest vertrauliche Informationen, die du nicht nutzen darfst. Wenn du ein richtiger Anwalt wärst und nicht nur ein Nachwuchsjurist, würdest du gegen die Standesordnung verstoßen und dir großen Ärger einhandeln. Tu’s nicht, Theo.
Sein Herz pochte, seine Füße waren bleischwer, und Theo wusste, dass er auf sein Gewissen hören musste. Die Tatsache, dass etwas nicht direkt verboten ist, bedeutet nicht, dass es erlaubt ist. Ike hatte ihm einmal gesagt, die großen Anwälte würden sich vor Gericht immer auf ihr Bauchgefühl verlassen. Im Augenblick schlug Theos Magen Purzelbäume.
Er stopfte die Briefe in seinen Rucksack und fuhr davon. Einen halben Häuserblock weiter fühlte er sich plötzlich viel besser. Er atmete freier, lächelte, trat kräftig in die Pedale, und sein Rucksack fühlte sich plötzlich viel leichter an, obwohl und gerade weil die Briefe noch dort waren.
Siebenundzwanzig
Das letzte Mal, dass Theo vor einem Ereignis so aufgeregt gewesen war, war am ersten Tag der Verhandlung gegen den des Mordes beschuldigten Pete Duffy gewesen. Damals hatte sein Freund Richter Gantry Mr. Mounts Klasse Plätze auf der Galerie seines imposanten Sitzungssaals gesichert. Der Zuschauerraum war völlig überfüllt gewesen – immerhin war es der größte Mordfall in Strattenburg seit Jahrzehnten –, und Theo und seine Klassenkameraden hatten Glück, dass sie dabei sein durften.
Diesmal war allerdings alles anders. Die öffentliche Anhörung sollte um acht Uhr abends beginnen, und bereits zwei Stunden vorher versammelten sich Gruppen vor dem Gebäude der County-Verwaltung. Vor den großen Eingangstüren bildete sich eine Schlange von Wartenden, die sich die besten Plätze sichern wollten. Tausende von Demonstranten mit Transparenten marschierten auf dem Gehweg auf und ab, offenbar alles Gegner der Umgehungsstraße. Zwei Fernsehcrews bauten ihre Ausrüstung auf.
Als Theo um halb sieben auf seinem Rad eintraf, warteten Hardie, Woody, Chase und April schon auf ihn. Rasch hatten sie sich organisiert. Sie postierten sich in der Nähe eines Denkmals vor dem Gebäude und fingen an, gelbe OP -Masken zu verteilen– an jeden, der sie haben wollte. Hardies Vater hatte eine ganze Lkw-Ladung davon erstanden und war mitgekommen, um sie zu unterstützen. Tatsächlich war die gesamte Familie Quinn bereits vor Ort.
Sie hatten ihr Protest-Outfit noch ein wenig verfeinert. April hatte die Idee gehabt, quer über gelbe Bandanatücher in fetten schwarzen Buchstaben das Wort » GIFT « zu drucken. Es war ein weiterer genialer Einfall. Sie und ihre Mutter hatten das Material ausgesucht, und eine Druckerei hatte kostenlos die Umsetzung übernommen. In voller Montur, mit gelber OP -Maske und passendem gelbem » GIFT «-Bandana, sahen die Jugendlichen aus wie kleine Terroristen. Bald erhielten sie Zulauf: Viele Kinder und nicht wenige Erwachsene wollten eine kostenlose Maske und ein Tuch haben. Eine Fernsehcrew bemerkte den Vorgang und fing an zu filmen.
Um sieben Uhr wimmelte es auf dem kleinen Platz vor dem Gebäude von Hunderten von Menschen, viele von ihnen gelb vermummte Kinder. Der Verkehr auf der Main Street staute sich und kam zum Erliegen. Schließlich öffneten sich die Türen, und die Menge drängte ins Gebäude.
Bei öffentlichen Anhörungen tagte der Verwaltungsrat in einem großen Auditorium mit hoher Decke, langen Fenstern und unzähligen, ansteigenden Reihen gepolsterter Sitze. An der Stirnseite des Raums saßen die Mitglieder des Verwaltungsrats in fünf massiven Ledersesseln an einem langen Tisch hinter Namensschildern und Mikrofonen. Hinter ihnen hatte eine kleine Armee von Beratern und Assistenten Stellung bezogen.
Als Theo gegen halb acht endlich in den Saal gelangte, waren alle Sitzplätze besetzt, und die Leute standen bereits an den Wänden. Er
Weitere Kostenlose Bücher