Theo Boone - Der Überfall: Band 4 (Heyne fliegt) (German Edition)
trieb er sich in Gerichtssälen herum. Recht war sein Hobby. Da er sich ständig damit beschäftigte und immer auf dem Laufenden war, galt er als unangefochtene Autorität für juristische Fragen. Auf diesem Gebiet konnte ihm niemand das Wasser reichen– zumindest niemand in Mr. Mounts Klasse.
» Ihr wart ja beim ersten Verhandlungstag vor vier Monaten dabei«, begann Theo. » Das heißt, ihr kennt die Beteiligten aus dem ersten Verfahren und wisst, wo ihr Platz ist. Staatsanwalt und Verteidiger sind dieselben. Mr. Duffy bleibt Mr. Duffy. Aber die Geschworenen haben gewechselt, und dann gibt es noch den neuen Augenzeugen, der im ersten Prozess nicht ausgesagt hat.«
» Schuldig!«, brüllte Woody ganz hinten im Raum. Andere stimmten mit ein.
» Also gut«, sagte Theo. » Stimmen wir ab. Wer hält Pete Duffy für schuldig?«
Vierzehn der sechzehn Schüler hoben ohne jedes Zögern die Hand. Nur Chase Whipple, das verrückte Genie, war wie immer anderer Meinung als die Mehrheit und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
Theo, der nicht abgestimmt hatte, war entsetzt. » Das ist doch lächerlich! Wie könnt ihr für schuldig stimmen, wenn die Verhandlung noch nicht einmal angefangen hat? Wir haben keine Zeugenaussagen gehört, wir wissen gar nichts. In unserem Rechtssystem gilt ein Angeklagter als unschuldig, solange seine Schuld nicht bewiesen ist. Wenn Pete Duffy heute Morgen den Verhandlungssaal betritt, ist er als unschuldig zu betrachten. Und das bleibt auch so, bis alle Zeugen ausgesagt haben und den Geschworenen sämtliche Beweise vorliegen. Schon mal was von der Unschuldsvermutung gehört?«
Mr. Mount stand in einer Ecke und beobachtete, wie Theo zu Hochform auflief. Es war keineswegs das erste Mal. Der Junge war ein Naturtalent, der Star des Debattierclubs der achten Klasse, für den Mr. Mount als Fachschaftsberater zuständig war.
Theo echauffierte sich immer noch über das vorschnelle Urteil seiner Klassenkameraden. » Es darf keine begründeten Zweifel an der Schuld des Angeklagten geben. Habt ihr das schon vergessen? Was ist bloß los mit euch!«
» Schuldig!«, brüllte Woody erneut, was ihm einige Lacher einbrachte.
Theo wusste, dass er auf verlorenem Posten stand. » Okay, okay«, sagte er. » Kann ich jetzt gehen?«
Die Glocke schrillte laut, und alle sechzehn Jungen rannten zur Tür. Theo schoss in den Gang und flitzte zum Sekretariat. Miss Gloria, die Schulsekretärin, telefonierte gerade. Sie mochte Theo, weil seine Mutter sie bei ihrer ersten Scheidung vertreten hatte. Außerdem hatte Theo sie einmal inoffiziell beraten, als ihr Bruder mit Alkohol am Steuer erwischt worden war. Kaum hatte sie Theo das gelbe Formular mit der von Mrs. Gladwell unterzeichneten Unterrichtsbefreiung ausgehändigt, da war er auch schon wieder weg. Die Uhr über ihrem Schreibtisch zeigte genau 8.47 Uhr.
Am Fahrradständer draußen an der Fahnenstange sperrte Theo seine Kette auf, schlang sie um den Lenker und trat kräftig in die Pedale. Wenn er sich an die Straßenverkehrsordnung hielt, brauchte er fünfzehn Minuten bis zum Gericht. Wenn er jedoch die üblichen Abkürzungen nahm, den einen oder anderen Fußweg nutzte, hie und da quer über ein Privatgrundstück fuhr und mindestens zwei Stoppschilder missachtete, konnte er es in etwa zehn Minuten schaffen. Heute hatte er keine Zeit zu verlieren. Er wusste, dass der Gerichtssaal bereits überfüllt sein würde. Nur mit viel Glück würde er überhaupt einen Sitzplatz bekommen.
Er flitzte einen Fußweg entlang, flog zweimal ein Stück durch die Luft und schoss durch einen Garten, dessen Besitzer ihm wohlbekannt war. Es handelte sich um einen unangenehmen Zeitgenossen, der Uniform trug und sich wie ein Polizeibeamter aufführte, obwohl er eigentlich nur Teilzeit-Wachmann war. Dieser Buck Boland (hinter seinem Rücken auch Buck Bolognese genannt) trieb sich gelegentlich im Gericht herum.
» Verschwinde, Junge!«, brüllte eine laute, wütende Stimme, als Theo durch den Garten raste und nach links abbog. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Mr. Boland einen Stein nach ihm warf, der ihn nur haarscharf verfehlte. Theo legte noch einen Zahn zu.
Das war knapp, dachte er. Vielleicht suchte er sich doch besser eine andere Route.
Neun Minuten, nachdem er die Schule verlassen hatte, hielt Theo mit quietschenden Reifen vor dem Gerichtsgebäude von Stratten County, kettete sein Rad in aller Eile am Fahrradständer an und stürzte ins Gebäude. Er sprintete die Prachttreppe
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