Theo Boone und das verschwundene Mädchen: Band 2 (German Edition)
Ununterbrochen. Sie will nach Paris und Kunst studieren. Sie will nach Los Angeles und bei ihrer großen Schwester March wohnen. Sie will nach Santa Fe und Malerin werden. Sie will weg, Punkt.
»Ich kann mich an nichts Derartiges erinnern«, sagte Theo. Das kam der Wahrheit sehr nahe, weil »in den letzten Tagen« so gut wie alles heißen konnte – eine vage Frage verlangte keine präzise Antwort. Das wusste Theo vom Gericht. Seiner Meinung nach gingen Sergeant Bolick und der Detective bei ihrer Befragung viel zu schlampig vor. Bisher hatten sie ihn nicht so in die Enge getrieben, dass er hätte lügen müssen.
May Finnemore wurde von ihren Gefühlen überwältigt und brach in dramatisches Schluchzen aus. Bolick und der Detective erkundigten sich bei Theo nach Aprils anderen Freunden, etwaigen Problemen, schulischen Leistungen und so weiter. Theo antwortete kurz und knapp, ohne überflüssiges Gerede.
Mittlerweile war eine uniformierte Beamtin aus dem oberen Stock nach unten ins Wohnzimmer gekommen und setzte sich zu Mrs. Finnemore, die vor Kummer zu zerfließen drohte.
Sergeant Bolick gab den Boones mit dem Kopf ein Zeichen, ihm in die Küche zu folgen. Der Detective schloss sich ihnen an.
»Hat das Mädchen jemals einen Verwandten erwähnt, der in Kalifornien im Gefängnis sitzt?«, fragte Bolick leise, wobei er Theo durchdringend ansah.
»Nein«, erwiderte Theo.
»Bist du sicher?«
»Natürlich bin ich sicher.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«, mischte sich Mrs. Boone ein. Sie hatte nicht vor, untätig zuzusehen, wie ihr Sohn drangsaliert wurde. Auch Mr. Boone stand kurz davor einzugreifen.
Der Detective zückte ein Schwarz-Weiß-Foto im Format zwanzig mal fünfundzwanzig, ein Verbrecherfoto einer zwielichtig wirkenden Gestalt. Offenbar ein abgebrühter Krimineller. »Das ist Jack Leeper, ein ziemlich übler Charakter. Ein entfernter Cousin von May Finnemore, die Verwandtschaft mit April ist also noch weitläufiger. Hat hier seine Kindheit verbracht, lebt aber schon lange woanders. Ein Berufsverbrecher. Fing mit kleinen Diebstählen an, stieg dann auf Drogenhandel um und so weiter. Wurde vor zehn Jahren in Kalifornien wegen Entführung zu lebenslänglich ohne Möglichkeit vorzeitiger Entlassung verurteilt. Vor zwei Wochen ist er ausgebrochen. Heute Nachmittag haben wir einen Tipp bekommen, dass er sich möglicherweise in der Gegend aufhält.«
Beim Anblick der Furcht einflößenden Visage von Jack Leeper wurde Theo übel. Wenn dieser Gangster April hatte, sah es wirklich schlecht aus.
Bolick fuhr fort: »Gestern Abend gegen 19.30 Uhr spaziert dieser Leeper in den koreanischen Mini-Supermarkt vier Straßen weiter und holt sich Zigaretten und Bier. Dabei lässt er sich von den Überwachungskameras filmen. Der Hellste ist er nicht. Wir wissen also jetzt, dass er definitiv in der Gegend ist.«
»Aber was sollte der von April wollen?«, stammelte Theo. Sein Mund war wie ausgedörrt, und seine Knie drohten unter ihm nachzugeben.
»Die kalifornischen Behörden haben Briefe von April in seiner Gefängniszelle gefunden. Die beiden waren Brieffreunde. Wahrscheinlich hat ihr der Kerl leidgetan, weil er den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen muss. Also hat sie ihm geschrieben. Wir haben ihr Zimmer oben durchsucht, aber nichts gefunden, was von ihm stammen könnte.«
»Das hat sie dir gegenüber nie erwähnt?«, fragte der Detective.
»Nie«, gab Theo zurück. Er hatte lernen müssen, dass Aprils merkwürdige Familie viele Geheimnisse hatte, Dinge, die April lieber für sich behielt.
Zu seiner Erleichterung steckte der Detective das Foto weg. Theo wollte diese Visage nie wiedersehen, aber so schnell würde er sie wohl auch nicht vergessen.
»Wir vermuten, dass April ihren Entführer kannte. Das ist die einzige Erklärung dafür, dass es keine Einbruchsspuren gibt.«
»Meinen Sie, er tut ihr etwas an?«, fragte Theo.
»Das wissen wir nicht, Theo. Dieser Mann hat den Großteil seines Lebens im Gefängnis verbracht. Sein Verhalten ist unberechenbar.«
»Zum Glück ist er bisher immer erwischt worden«, setzte der Detective hinzu.
»Wenn April bei ihm ist, wird sie sich bei uns melden«, sagte Theo. »Sie findet schon einen Weg.«
»Dann gib uns bitte Bescheid.«
»Keine Sorge.«
»Entschuldigen Sie«, mischte sich Mrs. Boone ein, »aber ich dachte, in solchen Fällen werden zuerst die Eltern überprüft. Vermisste Kinder werden doch fast immer von einem Elternteil entführt.«
»Das stimmt«,
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