Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
dass ihre Wohnung zwangsgeräumt worden war oder dass ihnen Essensmarken und ärztliche Behandlung verweigert wurden. Oft meinte er, diese Leute seien seine liebsten Mandanten. Da sie kein Honorar zahlen konnten, musste er es auch nicht eintreiben. Sie waren für alles dankbar, was er für sie tat. Und er genoss die Gespräche mit ihnen.
Da ihre Arbeit heikler war, empfing Mrs. Boone ihre Mandantinnen in einem kleinen Raum im Erdgeschoss. Die erste Mandantin hatte zwei kleine Kinder, keine Arbeit, kein Geld und, bis auf die Obdachlosenunterkunft, keinen Ort, an dem sie die Nacht hätte verbringen können.
Theos Job war die Hausaufgabenbetreuung. In der Obdachlosenunterkunft lebten mehrere Familien, die bis zu zwölf Monate dort bleiben durften– das war in der Highland Street die Obergrenze. Nach einem Jahr mussten sie ausziehen. Die meisten von ihnen fanden irgendwann Arbeit und eine Wohnung, aber das dauerte. Während sie in der Unterkunft lebten, wurden sie wie ganz normale Bürger von Strattenburg behandelt. Für Essen, Kleidung und ärztliche Versorgung war gesorgt. Entweder hatten sie Arbeit oder waren auf der Suche. Sie wurden von den Kirchengemeinden zum Gottesdienst eingeladen.
Ihre Kinder gingen auf die örtlichen Schulen. Abends wurde in der Unterkunft durch Freiwillige einer Kirchengemeinde eine Hausaufgabenbetreuung organisiert. Theo brachte jeden Dienstag zwei Zweitklässlern namens Hector und Rita Englisch bei und gab ihrem Bruder Nachhilfe in Algebra. Sie kamen aus El Salvador, und ihr Vater war unter ungeklärten Umständen verschwunden. Danach waren sie auf der Straße gelandet.
Als die Polizei sie fand, hausten sie mit ihrer Mutter unter einer Brücke.
Wie immer freuten sich Hector und Rita wie verrückt, als sie Theo sahen, und hängten sich an ihn, während er versuchte, sein belegtes Brot herunterzuschlingen. Dann rannten sie durch den Gang zu einem großen offenen Raum, in dem bereits andere Kinder beaufsichtigt wurden.
» Kein Spanisch«, sagte er mehrfach. » Nur Englisch.«
Ihre Englischkenntnisse faszinierten ihn. Sie nahmen sie jeden Tag in der Schule auf wie ein Schwamm und brachten es ihrer Mutter bei. Nun suchten sie sich einen Ecktisch, und Theo las ihnen aus einem Bilderbuch vor, das von einem Frosch handelte, der aufs Meer hinausgetrieben worden war.
Mrs. Boone hatte darauf bestanden, dass Theo in der vierten Klasse mit Spanisch anfing, sobald es in der Schule angeboten wurde. Als sich der Unterricht als zu einfach erwies, engagierte sie einen Privatlehrer, der zweimal pro Woche in der Kanzlei vorbeikam und Theo ordentlich an die Kandare nahm. Unter dem sanften Druck seiner Mutter und mit dem Vorbild von Madame Monique, das er jeden Tag vor Augen hatte, lernte Theo schnell.
Er las eine Seite und ließ sie dann von Rita lesen. Dann von Hector. Theo korrigierte ihre Fehler und nahm sich die nächste Seite vor. Im Raum ging es laut, geradezu chaotisch zu. Immerhin versuchten an die zwei Dutzend Schüler aller Altersstufen, hier ihre Hausaufgaben zu erledigen.
Die Zwillinge hatten einen älteren Bruder namens Julio, einen Siebtklässler, den Theo gelegentlich im Schulhof sah. Er war so schüchtern, dass es beinahe unangenehm war. Mrs. Boone führte das darauf zurück, dass er seinen Vater in einem fremden Land verloren hatte und sich an niemanden wenden konnte.
Sie hatte immer eine Theorie, wenn sich jemand merkwürdig verhielt.
Nachdem Theo das zweite Buch mit Hector und Rita gelesen hatte, setzte sich Julio zu ihnen.
» Was gibt’s?«, fragte Theo.
Julio lächelte, wich seinem Blick aber aus.
» Ich will noch ein Buch lesen«, sagte Hector.
» Gleich.«
» Ich komme mit Algebra nicht zurecht«, erklärte Julio. » Kannst du mir helfen?«
» Theo kümmert sich aber jetzt um uns«, behauptete Rita streitlustig.
Theo nahm zwei Bücher aus einem Regal und legte sie vor Hector und Rita auf den Tisch. Dann legte er jedem einen Block und einen Bleistift hin. » Ihr lest jetzt diese Bücher«, sagte er. » Und zwar laut. Wenn ihr ein Wort seht, das ihr nicht kennt, schreibt ihr es auf. Okay?«
Sie rissen die Bücher auf, als gäbe es etwas zu gewinnen.
Und Theo und Julio waren bald in die Welt der Algebra versunken.
Um 22 . 00 Uhr saßen die Boones zu Hause vor dem Fernseher. Judge schlief auf dem Sofa, mit dem Kopf in Theos Schoß. Der Duffy-Mord war die einzige Neuigkeit in Strattenburg, und die beiden Fernsehsender der Stadt berichteten über nichts anderes. Es wurde
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