Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
Julio. Buenos días.«
» Hola, Theo.«
Theo schlang die Kette um das Vorderrad und ließ das Schloss einschnappen. Er fand das mit der Kette noch immer frustrierend. Bis vor einem Jahr hatte sich in Strattenburg niemand über sein Fahrrad Gedanken machen müssen. Keiner hatte ein Schloss. Dann verschwanden zunehmend Fahrräder, und die Eltern bestanden darauf, dass die Räder gesichert wurden.
» Danke für deine Hilfe gestern«, sagte Julio. Sein Englisch war gut, aber er hatte nach wie vor einen starken Akzent. Die Tatsache, dass er Theo in der Schule angesprochen hatte, war ein großer Fortschritt. Zumindest fand Theo das.
» Keine Ursache. Jederzeit wieder.«
Julio sah sich um. Die Schüler, die mit dem Bus gekommen waren, schoben sich dicht gedrängt durch die Eingangstür. » Du kennst dich doch mit Recht aus, Theo.«
» Meine Eltern sind beide Anwälte.«
» Polizei, Gerichte, all das?«
Theo zuckte die Achseln. Er stritt nie ab, dass er solide Rechtskenntnisse besaß. » Ich weiß ziemlich viel. Was ist los?«
» Dieser große Prozess– ich glaube, der Mann heißt Duffy.«
» Ja, er ist wegen Mordes angeklagt. Und es ist wirklich ein großer Prozess.«
» Kann ich mit dir darüber reden?«
» Klar«, erwiderte Theo. » Darf ich fragen, warum?«
» Weil ich vielleicht was weiß.«
Theo sah ihn prüfend an. Julio wandte den Blick ab, als hätte er sich etwas zuschulden kommen lassen. Ein Lehrer forderte die Schüler lautstark auf, endlich in den Unterricht zu gehen. Theo und Julio nahmen Kurs auf die Tür.
» Wir treffen uns in der Mittagspause«, sagte Theo.
» Gut. Danke.«
» Keine Ursache.«
Als ob Theo nicht schon genug über den Duffy-Prozess nachdenken würde. Und jetzt gab es wirklich etwas, das ihn beschäftigte. Was konnte ein obdachloser Zwölfjähriger aus El Salvador über den Mord an Myra Duffy wissen?
Nichts, entschied Theo auf dem Weg zum Klassenzimmer. Er begrüßte Mr. Mount und packte seinen Rucksack aus. Glücklich war er nicht. Die Verhandlung im größten Prozess in der Geschichte Strattenburgs wurde in einer halben Stunde fortgesetzt– ohne ihn. Das Leben war ungerecht.
In der ersten Pause schlich sich Theo in die Bücherei und versteckte sich in einer Lesekabine. Er holte seinen Laptop hervor und ging an die Arbeit.
Die für den Duffy-Prozess eingeteilte Gerichtsschreiberin war Ms. Finney. Nach dem, was Theo im Gericht gehört hatte, war sie die Beste in der Stadt. Wie bei jeder Verhandlung saß Ms. Finney unter dem Richtertisch und neben dem Zeugenstand. Es war der beste Platz im Saal, und das aus gutem Grund. Sie musste jedes Wort festhalten, das Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Zeugen und schließlich auch die Geschworenen sprachen. Mit ihrer Maschine, einem Stenografen, schaffte Ms. Finney locker zweihundertfünfzig Wörter pro Minute.
Früher hatten die Gerichtsschreiber Kurzschrift verwendet, das wusste Theo von seiner Mutter. Dabei wurden Symbole, Codes und Abkürzungen verwendet und was sonst noch erforderlich war, um mit der Verhandlung Schritt zu halten. Nach deren Ende übersetzte der Gerichtsschreiber diese Kurzschrift in eine sauber getippte Niederschrift dessen, was während der Verhandlung gesagt worden war. Das konnte Tage, Wochen, manchmal sogar Monate dauern und war harte Arbeit.
Dank der modernen Technik war die Aufzeichnung deutlich einfacher geworden. Noch besser war, dass praktisch sofort ein Protokoll der Verhandlung verfügbar war. Im Sitzungssaal gab es mindestens vier Desktop-Computer– für Richter Gantry am Richtertisch, am Tisch der Verteidigung, am Tisch der Staatsanwaltschaft und am Platz des Gerichtsschreibers. Während Ms. Finney die einzelnen Worte erfasste, wurde der Text übersetzt, formatiert und ins System eingespeist, sodass die vier Computer das Verfahren in Echtzeit wiedergaben.
Ms. Finney teilte sich im zweiten Stock ein Büro mit anderen Gerichtsschreibern. Ihr Softwaresystem nannte sich Veritas. Theo hatte sich schon früher dort eingehackt, wenn er wissen wollte, was bei Gericht los war.
Das System war nicht gesichert, weil die Informationen in öffentlicher Sitzung verfügbar waren. Jeder konnte in den Saal spazieren und der Verhandlung beiwohnen. Zumindest jeder, der nicht schulischen Zwängen unterworfen war. Aber wenn Theo schon nicht persönlich dabei sein konnte, wollte er zumindest wissen, was los war.
Viel hatte er nicht verpasst. Der erste Zeuge des zweiten Tages war der Chef des Sicherheitsdienstes,
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