Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
wurde er vor ein Geschworenengericht gestellt und riskierte eine viel längere Freiheitsstrafe. Bei Jugendlichen, recherchierte Theo, die gegen das Betäubungsmittelgesetz verstießen, kam es in weniger als zwei Prozent der Fälle überhaupt zur Verhandlung.
Wenn Eltern und Stiefeltern dem Jungen nicht helfen wollten, wie Woody gesagt hatte, würde er einen Pflichtverteidiger bekommen. In Strattenburg waren diese Pflichtverteidiger sehr kompetent und hatten täglich mit ähnlichen Drogenvergehen zu tun.
Theo fasste das in aller Eile in einer E-Mail zusammen und schickte sie an Woody. Dann schrieb er eine zweite Mail an Mr. Mount und erklärte ihm, dass er nicht in der Schule war und den Sozialkundeunterricht verpassen würde. Und schließlich sandte er einen kurzen Gruß an April.
Die Uhr an der Wand schien stillzustehen. Mrs. Hardy tippte eifrig. Die toten Richter mit ihren düsteren, argwöhnischen Gesichtern schienen Theo durchdringend zu mustern, als fragten sie sich, was er im Gericht zu suchen hatte. Sein Vater telefonierte draußen im Gang wegen einer wichtigen Immobiliensache. Seine Mutter hämmerte auf ihren Laptop ein, als ginge es um Leben und Tod. Ike stand immer noch an irgendeinem Fenster und blies den Rauch aus dem Gebäude.
Theo schlenderte davon. Er ging die Treppe hinauf und schaute bei der Geschäftsstelle des Familiengerichts vorbei, weil er hoffte, Jenny dort zu finden, die jedoch nicht da war. Dann ging er zum Tiergericht, aber der Raum war leer. Schließlich stieg er eine alte, düstere Treppe hinauf, die niemand benutzte und von deren Existenz nur wenige wussten. Leise arbeitete er sich durch einen dämmrigen Gang im zweiten Stock vor, bis er zu einem verlassenen Raum kam, in dem früher die juristische Bibliothek des County untergebracht gewesen war. Überall lag eine dicke Staubschicht, und Theo hinterließ Fußabdrücke auf dem Boden, als er auf Zehenspitzen durch den Raum ging. Er öffnete die Tür zu einem kleinen Wandschrank und schloss sie wieder hinter sich. Drinnen war es so dunkel, dass er die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Knapp über dem Boden klaffte ein Spalt, ein schmaler Schlitz, durch den Theo in den Sitzungssaal unten sehen konnte. Sozusagen aus der Vogelperspektive, hoch über den Köpfen der Geschworenen.
Es war ein hervorragender Aussichtspunkt, den Theo ein Jahr zuvor entdeckt hatte, als ein Vergewaltigungsopfer in einem Fall ausgesagt hatte, der so grauenerregend war, dass Richter Gantry den Sitzungssaal räumen ließ. Theo war bei der Aussage schlecht geworden, und er hatte sich tausendmal dafür verwünscht, dass er gelauscht hatte. Vom Saal aus war der Spalt in der Vertäfelung nicht zu erkennen. Er befand sich direkt über einer Reihe dicker Samtvorhänge über den Geschworenenbänken.
Einer von Mr. Duffys Golfkumpeln sagte als Zeuge aus, und obwohl Theo nicht alles hören konnte, verstand er das Wesentliche. Der Zeuge erklärte, dass Mr. Duffy ein ernsthafter, sehr ambitionierter Golfer war, der fest entschlossen war, sein Spiel zu verbessern, und seit vielen Jahren lieber allein spielte. Daran war nichts Ungewöhnliches. Viele Golfer, besonders die, die den Sport ernst nahmen, spielten lieber allein, um an sich zu arbeiten.
Der Sitzungssaal war überfüllt. Die Galerie konnte Theo nicht sehen, aber er ging davon aus, dass sie ebenfalls voll besetzt war. Von Mr. Duffy, der zwischen seinen Anwälten am Tisch der Verteidigung saß, war von oben gerade noch der Kopf zu erkennen. Er wirkte zuversichtlich, fast sicher, dass der Prozess für ihn günstig verlief und die Geschworenen ihn für nicht schuldig befinden würden.
Theo sah sich die Verhandlung ein paar Minuten lang an. Dann fingen Staatsanwalt und Verteidiger an herumzubrüllen, und er schlüpfte aus dem Schrank. Er war die Treppe schon halb heruntergelaufen, als er auf dem Treppenabsatz unter sich eine Bewegung bemerkte. Jemand hielt sich dort unten in der Dunkelheit verborgen. Theo blieb wie angewurzelt stehen. Qualm stieg ihm in die Nase. Dieser Jemand rauchte eine Zigarette und verstieß damit gegen die Vorschriften, weil sie sich innerhalb des Gebäudes befanden. Er blies eine gewaltige Dunstwolke in die Luft und trat in die Mitte des Absatzes. Es war Omar Cheepe, dessen massiger, kahler Schädel sichtbar wurde. Er sah Theo aus schwarzen Augen an, drehte sich wortlos um und ging davon.
Theo hatte keine Ahnung, ob Cheepe ihm gefolgt war oder ob er regelmäßig auf dem Treppenabsatz rauchte.
Weitere Kostenlose Bücher