Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
Verfahrensregeln für diese ungewöhnliche Tatsachenkombination gelten mochten. Obwohl er mehr gesagt hatte, als er vorgehabt hatte, war Theo erleichtert, dass sich die Last nun auf mehrere Schultern verteilte. Seine Eltern würden wissen, was zu tun war. Ike würde ihnen raten können. Bestimmt fiel den drei Erwachsenen etwas ein.
» In der Zeitung stand, der Prozess geht vielleicht heute schon zu Ende«, gab Mrs. Boone zu bedenken.
» Ich komme gerade aus dem Gericht«, erklärte Ike. » Mr. Duffy soll heute Nachmittag aussagen, und er ist der letzte Zeuge. Nach den Schlussplädoyers geht der Fall an die Geschworenen.«
» Es heißt, Richter Gantry will morgen verhandeln lassen, bis die Geschworenen zu einem Urteil gekommen sind. Das habe ich heute Morgen im Diner gehört«, sagte Mr. Boone.
» Am Samstag?«
» Angeblich schon.«
Wieder folgte eine lange Pause. Mrs. Boone sah ihren Sohn an. » Theo, was meinst du? Was sollen wir jetzt tun?«
Theo hatte gehofft, die Erwachsenen würden das wissen. Er wand sich ein wenig, bevor er etwas sagte. » Ich glaube, es wäre am besten, wenn wir Richter Gantry die ganze Geschichte erzählen.«
» Da bin ich ganz deiner Meinung«, pflichtete sie ihm lächelnd bei.
» Ich auch«, stimmte Ike zu.
Es war keine Überraschung– zumindest nicht für Theo–, dass sein Vater anderer Ansicht war. » Was, wenn Richter Gantry Theo unter Druck setzt, damit er Namen oder Identität seines Zeugen preisgibt? Was, wenn Theo sich weigert, den Namen auszuspucken? Was dann? Richter Gantry könnte das als Missachtung des Gerichts auslegen.«
» Ich habe keine Ahnung, was das heißt«, gab Theo zu.
» Das bedeutet Ärger«, sagte sein Vater.
» Es heißt, er kann dich einsperren lassen, bis er von dir bekommt, was er will.« Ike grinste zynisch, als wäre die ganze Sache komisch.
» Ich will aber nicht ins Gefängnis«, verkündete Theo.
» Sei nicht albern, Woods«, meinte Mrs. Boone. » Henry Gantry würde Theo nicht der Missachtung des Gerichts beschuldigen.«
» Da bin ich mir nicht so sicher«, konterte Woods. » Es gibt einen wichtigen Augenzeugen, dessen Aussage den Ausgang des Prozesses verändern könnte, und es gibt eine Person, die von diesem Augenzeugen weiß. Diese Person ist Theo, und wenn er dem Richter nicht gehorcht, könnte der ungehalten werden. Ich könnte es ihm nicht verdenken.«
» Ich will wirklich nicht ins Gefängnis«, wiederholte Theo.
» Du kommst nicht ins Gefängnis«, sagte Mrs. Boone. » Kein Richter, der bei klarem Verstand ist, sperrt einen unbescholtenen Dreizehnjährigen ein.«
Eine weitere lange Pause.
» Theo, was passiert, wenn irgendwie herauskommt, wer dieser Zeuge ist?«, fragte Mr. Boone schließlich.
» Er ist ein illegaler Einwanderer, Dad. Eigentlich dürfte er gar nicht hier sein, und er hat Angst. Wenn die Polizei seinen Namen erfährt und ihn aufspürt, wandert er ins Gefängnis, und das ist dann meine Schuld. Und wenn die Polizei ihn nicht findet, wird er sich absetzen.«
» Dann sag uns nicht, wer er ist«, riet Mrs. Boone.
» Danke, Mom. Das hatte ich auch nicht vor.«
» Sag es keinem.«
» Will ich ja gar nicht. Aber jetzt wisst ihr, dass er ein illegaler Einwanderer ist, der auf dem Golfplatz arbeitet. So jemand ist nicht schwer zu finden.«
» Und woher kennst du diese Person?«, erkundigte sich Mr. Boone.
» Er hat einen Cousin an meiner Schule, und der hat mich um Hilfe gebeten.«
» Wie alle anderen Kinder an deiner Schule«, warf Ike ein.
» Nicht alle, aber viele.«
Alle holten tief Luft. Dann sah ihn sein Vater lange an und lächelte. » Es ist die Familie aus der Obdachlosenunterkunft, stimmt’s? Julio, dein Freund, der Junge, dem du Mathenachhilfe gibst. Und seine Mutter. Wie hieß die gleich noch, Marcella?«
» Carola.«
» Genau, Carola. Ich habe mich ein paarmal mit ihr unterhalten. Sie hat zwei kleinere Kinder und Julio. Die Familie stammt aus El Salvador. Julios Cousin ist der mysteriöse Augenzeuge. Habe ich recht, Theo?«
Theo nickte. Ja, Dad, du hast es erfasst. Und auf merkwürdige Weise fühlte er sich erleichtert. Er hatte sein Wort nicht gebrochen, und irgendjemand musste schließlich die Wahrheit erfahren.
Sechzehn
Als Theo hinter seinen Eltern und Ike her ins Gericht trottete, wurde ihm klar, dass dies vielleicht das erste Mal war, dass er das Gebäude nur widerwillig betrat. Normalerweise machte es ihm Spaß, Juristen und Justizangestellte geschäftig durch die Gänge hasten zu
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