Theodor: The Theodor Story (Die Wiedergeburt) (German Edition)
ihr zu. „Warum sind Sie in Rom?“
Annemarie muss anscheinend erschrocken sein, denn sie schluckte schwer und musste einmal tief Luft holen. Mit dieser Direktheit hatte sie wohl nicht gerechnet. Eine Antwort gab sie ihm nicht.
Henrieces Atem ging flach. „Die vierte Säule“, sprach er in gedämpften Tonfall weiter. „Sie sind auf der Suche danach. Warum?“
„Henriece Sancés, Sie sind...“ Entrüstet wollte sie sich zurücklehnen, aber im selben Moment musste der Busfahrer stark bremsen. Die Folge war, dass ihr Hut etwas verrutschte. Eine unschöne Narbe an der linken Stirnhälfte kam zum Vorschein.
„Der Körper ist Ausdruck der Seele“, bemerkte Henriece darauf und half ihr, ihre Handtasche aufzuheben, die auf den Boden gefallen war.
„Ja!“, erwiderte sie und rückte den Hut wieder zurecht. „Diese Narbe ist älter, als Sie Jahre zählen.“
„Was denken Sie denn, wie alt ich bin?“, fragte Henriece und lehnte sich lächelnd zurück. Der Bus hatte seine Fahrt wieder aufgenommen.
„Hm“, brummte sie und musterte ihn eingehend. „Mindestens sechzig Jahre.“
„Dann haben Sie diese Narbe seit Ihrer Geburt“, schlussfolgerte Henriece.
„Ich bin mit ihr zur Welt gekommen“, antwortete sie etwas erstaunt, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr Alter so präzise schätzen konnte. Denn in der Tat, sie war vor wenigen Wochen sechzig Jahre alt geworden.
Henriece schloss für ein paar Sekunden seine Augen. Er versuchte die letzten Stunden, vom einchecken des Fluges bis Beginn der Unterhaltung zu rekonstruieren.
Jeden Augenblick hatte er Frank Gardens Erscheinen erwartete und konzentriert nach ihm Ausschau gehalten. Jeden Passagier hatte er dabei eingehend gemustert, die alte Dame war ihm aber nicht aufgefallen. Henriece saß schon auf seinem Platz, als sie zu ihm kam und höflich darum bat, an die Fensterseite sitzen zu dürfen. Die Möglichkeit, dass sie schon vor ihm im Flugzeug saß, war durchaus gegeben, da er unter den letzten Passagieren war, die das Flugzeug betraten.
Bisher hatte Henriece mit verstellter Stimme gesprochen – seinem faltigen Äußerlichen angepasst. Kurz entschlossen nahm er seinen Ausweis hervor und hielt ihn ihr wortlos vor das Gesicht.
„Mein Gott!“, entfuhr es ihr. „Sie sind erst vierundzwanzig Jahre alt?“ Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. „Sie machen Scherze – oder?“
„Der Körper ist Ausdruck der Seele“, wiederholte Henriece sich. Seine Stimme klang jung und kräftig, womit er ihr nochmals einen Schock versetzte. „Noch vor drei Monaten hatte mein Körper das Alter eines Vierundzwanzigjährigen.“
„Mein Gott – was ist mit Ihnen passiert? Waren Sie denn nicht beim Arzt?“
„Hier kann kein Arzt helfen, Annemarie“, antwortete er. „Dieses Leiden ist nicht körperlich, es ist seelisch.“
„Sind Sie deswegen hier?“
„Ja und nein.“ Henriece steckte seinen Ausweis wieder zurück und warf einen Blick aus dem Fenster. Soeben fuhren sie am Kolosseum vorbei direkt auf eine Haltestelle zu. „Es muss etwas mit Rom zu tun haben“, sagte er und griff nach seinen zwei Koffern. „Wir sind, denke ich, angekommen. Ich begleite Sie zu der Generalaudienz. Vielleicht finde ich ja dort eine Antwort.“
„Wollen Sie mit mir den heutigen Tag verbringen?“, fragte sie und nahm ihre Reisetasche an sich. „Ich habe den Eindruck, dass wir beide etwas Gemeinsames haben. Wollen Sie?“
„Nachdem ich mich frisch gemacht habe, können wir gerne zusammen Essen gehen“, nahm Henriece die Einladung an.
Vierter Stock, Zimmer 28, las er auf dem Schlüssel und ließ sich vom Hotelier den Weg beschreiben. Mit seiner Bekanntschaft hatte er sich für zwei Stunden später verabredet.
Das Hotel zählte zu den besten Unterkünften Roms. Henriece wollte sich nach einer günstigeren Unterkunft umsehen, doch Annemarie bestand darauf, ihn einladen zu dürfen. Schmucke Gänge, mit weichem samtigen Teppichen ausgestattet, die Wände mit kunstreichen Bildern bemalt, die noch aus dem Mittelalter herrühren durften, vermittelte ihm ein Gefühl der Vertrautheit. Henriece betrachtete sich die Gemälde sehr genau. Herrscher und Beherrschte, Diener und Könige, Krieger und Priester dominierten die Motive.
Zimmer 28. Henriece trat ein und konnte sich einer Verwunderung nicht wehren. Das war kein gewöhnliches Zimmer, das war eine exklusive Suite, ausgestattet mit edlem Holz, Marmor und Granit. Auch diese Wände waren mit mittelalterlichen
Weitere Kostenlose Bücher