Theres
offenbar einen heilenden Effekt auf Berufsrevolutionäre hat. Wie wachsen also die Nervenfasern in dieser lobotomisierten Stadt zusammen? Herold studiert das Fließschema zwischen der westlichen und östlichen Hemisphäre der Stadt. Ehemals trug auch das Paar Meinhof / Röhl zu diesem lebhaften Grenzverkehr bei; ihr Ziel: mit Ostgeld die Herausgabe der Zeitschrift zu finanzieren. Dann (Herold vermerkt die Jahreszahl: 1964 ) kommt es zu ideologischen Differenzen, und die Verbindungen werden abrupt abgebrochen. Herold glaubt auch aus gutem Grund zu wissen, dass man Meinhof als einziger aller Gruppenmitglieder beim Übergang nach Ostberlin Asyl in der DDR angeboten, sie aber das Angebot abgeschlagen hat . Was bleibt dann also noch? Herold denkt: »die Stadt« – der eigentliche Rahmen für diesen sinnlosen Aufruhr – und schließlich »die Aufrührer« , die ihr entflohen sind. Denkt weiter: Nichts vermag in einem Vakuum zu existieren. Halte das Bild an, entleere es allen Inhalts. Was du erhältst, ist ein unerträglicher Zustand. Früher oder später muss etwas anderes hineinströmen. Aber was?
Um auf die Frage eine Antwort zu finden, beginnt Herold ein kleines Kompendium zusammenzustellen. Dieses Kompendium speichert er dann in einer extra Datei, als »privat« markiert unter dem Namen INSELN :
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(Etymologie)
Isolieren. Das Wort kommt vom italienischen isola , was Insel heißt.
(Utopie)
Eine Insel kann ein Verbannungsort sein, ein Ort, an dem man sich der Verbrecher oder anderer für das Gemeinwesen missliebiger Elemente entledigt (vergleiche Isolationszelle ). Es ist üblicher, Inseln alsZufluchtsorte zu betrachten. Will man etwas Neues schaffen, muss man sich erst von der Welt abgrenzen. Die Insel ist die Welt, von der man sich abgegrenzt hat, allerdings in kleinerem Maßstab: ein Modell, bei dem man die Dinge auf neue, nie zuvor geschaute Weise ordnen kann. Belege dafür findet man in allen Überlebensgeschichten, die sich auf verlorenen oder mystischen Inseln abspielen: »Robinson Crusoe«, »Die geheimnisvolle Insel«. Auch Shakespeares »Der Sturm« gehört hierher, mit Prospero, der in seiner Zelle auf all der Buchgelehrsamkeit thront, die ihm praktisch von Nutzen sein wird, wenn er als einer der wenigen, die die Mächte tatsächlich zu besiegen vermochten, aufs Festland zurückkehrt. Die utopische Dimension ist somit in allen Insel-Schilderungen vorhanden. Sich außerhalb zu stellen, um besser hineinblicken zu können; vorhandene Gesetze aufzuheben, um andere, der menschlichen Natur besser angepasste an ihre Stelle zu setzen. Isola nera: nicht nur Arnold Böcklins entrücktes Todesparadies, sondern auch der archimedische Punkt, an dem die ganze Welt zusammentrifft. Oder umgekehrt: von dem die Welt in ihrer Gesamtheit zu überblicken ist. War es ein solcher Ort, nach dem du dich gesehnt hast, Ulrike?
(Philosophie)
Es gibt keine Wüsten mehr. Es gibt keine Inseln mehr. Albert Camus’ Worte von 1939 rufen ein Problem in Erinnerung, das die Philosophen lange beschäftigt hat. Wie stellt man es an, in einer Welt zu leben, die durch unumstößliche Gesetze gelenkt wird, wenn man diese Gesetze zugleich als gegen die eigene Natur gerichtet empfindet?
Kant verfolgte mit seinem großen Werk Kritik der reinen Vernunft letztlich das Ziel, mitten im Ozean des mechanischen Kausalitätsprinzips der Natur eine »Insel« abzugrenzen, um auf philosophisch exakte Weise die moralische Wahlfreiheit des Menschen in der Welt der modernen Physik zu sichern. Hegel anerkennt die Existenz einer Insel, die viel größer und geräumiger ist, als Kant es sich vorgestellt hat. Beide Philosophen glauben, dass der Mensch in gewisser Weise den physikalischen Gesetzen buchstäblichnicht unterworfen ist. Das bedeutet nicht, dass sich der Mensch schneller als Licht bewegen oder die Gesetze der Schwerkraft aufheben kann, sondern vielmehr, dass moralische Phänomene nicht einfach auf die Gesetze der Mechanik zurückgeführt werden können.
Wir haben weder die Absicht noch den Raum, hier darüber zu diskutieren, ob der deutsche Idealismus diese Insel zu Recht abgegrenzt hat. Die metaphysische Frage, ob es eine menschliche Wahlfreiheit gibt, ist, wie Rousseau sagte »l’abyme de la philosophie«, der Abgrund, vor dem die Philosophie steht. Auch wenn wir diese quälende Frage für den Moment beiseitelassen müssen, wollen wir doch wenigstens darauf hinweisen, dass die Bereitschaft, das Leben zu riskieren, auf die Hegel so viel Wert legt,
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