Theres
Frau Meinhof und ihre beiden Kinder. Beispielsweise wurden in einem der Zimmer (unter einem ansprechenden Porträt des Revolutionsführers Che Guevara) vier Hängematten an der Wand befestigt vorgefunden. Weitere Matratzen im Wohnzimmer deuten daraufhin, dass insgesamt bis zu zehn Personendort geschlafen haben; es gibt Grund zu der Annahme, dass nach mindestens zwei von ihnen, Baader und Ensslin, jetzt eine Fahndung läuft. Ansonsten hinterließ die Wohnung einen leicht chaotischen Eindruck: über mehrere Zimmer verstreutes Kinderspielzeug, mit Sprayfarbe besprühte Wände, Schlaf- und Arbeitszimmer voller Bücher und Papiere in ungeordneten Stapeln.
Dem Bericht liegt auch ein langes Verzeichnis von in der Wohnung gemachten »Fundstücken« bei. Einigen widmet sich Herold ganz speziell:
* ein Schuhkarton, gefüllt mit kleinen handgeschnitzten Tieren (Kühe, Ziegen, Schafe, eine Katze, zwei kleine Mäuse et cetera), auf dem Karton auch EIN STALL , komplett mit Verschlägen zur Unterbringung der Tiere
* zwei DESSERTLÖFFEL und ein TORTENHEBER aus Silber, gedrückt zwischen zwei der Sofapolster im Wohnzimmer aufgefunden (der Rest des Tischsilbers in einem Kasten aus Nussbaumholz an anderer Stelle der Wohnung)
* ein mehrfach auf- und zusammengefalteter BERLINER STADTPLAN , mit schwarzem Filzstift eingekreist der Ortsname WANNSEE
* eine Taschenbuchausgabe von Rilkes DUINESER ELEGIEN (auf dem Nachttisch, und im Buch steckend:)
* ein BRIEF (geschrieben auf liniertem Papier der Marke »Herlitz«)
Mit dem Berliner Stadtplan hat Herold keine Schwierigkeiten. Wannsee kann sich nur auf Heinrich von Kleist und den Ort beziehen, an dem er Selbstmord beging (21.11.1811). Kleist ist natürlich vor allem bekannt für seinen frühen Revolutionsroman Michael Kohlhaas : die Geschichte des Rosshändlers, der, als man ihm ein paar Pferde gestohlen hatte, beschloss, gegen ganz Deutschland in den Krieg zu ziehen; selbstverständlich kann nur ein enttäuschter Preuße eine Weltrevolution anzetteln, weil zwei seiner Pferde malträtiert wurden. Herold blättert in Meinhofs Kohlhaas-Exemplar und findet eine unterstrichene Stelle: »… und mitten in der Trauer, die Welt in einem Zustand derartfurchtbarer Rechtlosigkeit zu finden, verspürte er eine innige Freude, dass in seiner eigenen Seele nun Gleichgewicht herrschte.«
Mit dem Brief hat er größere Schwierigkeiten. Der beginnt mitten in einem Satz und endet mitten in einem anderen. Ist »rasch hingeschmiert«. Vieles deutet daraufhin, dass nicht einmal die Absicht bestand, ihn abzuschicken: vielleicht (der Gedanke kommt Herold erst später) hat er nicht einmal einen tatsächlichen Adressaten. Der Brief lautet (etwas verkürzt):
… befinde mich seit einiger Zeit in einem Zustand starker Ausgelassenheit. Endlich scheinen wir im Begriff, etwas zu tun . Das Einzige, was mir Sorgen bereitet, sind die Kinder. Ich werde sie ein paar Freunden anvertrauen, auf die ich mich verlassen kann, doch kann nichts in Zukunft als sicher gelten. Ich bitte Dich deshalb, falls sie jemals in Gefahr geraten oder ihnen sonst Schlimmes widerfahren sollte, tue alles, was in Deiner Macht steht, um ihnen zu helfen.
Erinnerst Du Dich an die Frösche, die wir immer im Park hinter Frau Schneiders Haus fingen, und an das erste Mal, als wir davon sprachen, dass Du zu uns kommen sollst?
Dort fängt es an –
(Nichts weiter; hier endet der Brief.)
*
Herold an seinem Schreibtisch; späte Nachtarbeit. Vor ihm aufgeschlagen: der Berliner Stadtplan, Meinhofs Liste . Wie Karten von Städten kann man auch Karten von Menschen erstellen; aus diesen »Mentalitätskarten« werden dann »Verbrechensprofile«; denn wenn es stimmt, was manche behaupten, dass jeder Hang zum Verbrechen pathologisch ist, können auch dessen Ursachen und dessen weiterer Verlauf diagnostiziert werden, wenn man die Symptome hinreichend gründlich untersucht. Herold ist seit einiger Zeit mit Meinhofs Krankheit bestens vertraut. Er hat sich Kopien ihrer Röntgenaufnahmen kommen lassen, wie auch eine Reihe von ärztlichen Gutachten, ausgestellt von Experten auf ihrem Gebiet, von denen zumindest einer (Neurologe in Hamburg)»es für nicht unwahrscheinlich hält, dass diese Art Gehirntumor, von der Meinhof betroffen ist« – ein sogenanntes Kavernom (Herolds Randnotiz) »auch erhebliche Persönlichkeitsstörungen zur Folge haben kann«. Herold bedenkt diesen Punkt, mustert dann die vor ihm ausgebreitete Karte: die Inselstadt , deren günstiges Klima
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