Thondras Kinder - Roberts, A: Thondras Kinder
Waldgeist.«
Das Wesen kam langsam schwebend näher. Man sah es kaum. Es war sehr schlank und durchsichtig, hatte ein kleines, blasses Gesicht und ganz helle, grünliche Haare, die mit Blättern durchsetzt waren. Der Waldgeist schwebte langsam näher und begann dann zu verblassen. Rijana trat vor, aber Ariac hielt sie am Arm fest. Er kannte solche Wesen nicht.
»Warte«, rief Rijana jedoch. »Geh nicht fort, wir tun dir nichts, und wir lieben den Wald.«
Der Waldgeist nahm wieder etwas festere Formen an und kam weiter auf Rijana zugeschwebt. Seine Augen schienen Rijana tief in die Seele zu blicken. Dann breitete sich ein Lächeln auf dem schmalen, spitzen Gesicht des Waldgeistes aus.
»Du hast Recht, du bist in den Wäldern geboren.« Der Waldgeist schwebte auf Ariac zu, der sich versteifte. »Du bist ein Kind der Steppe.« Das Wesen seufzte. »Dort gibt es kaum Bäume, das ist traurig, aber die Windgeister sagten mir, es sei auch dort sehr schön.«
»Rijana, was soll das?«, flüsterte Ariac, ihm war unwohl zumute.
Aber Rijana nickte ihm beruhigend zu. Dann wandte sie sich an den Waldgeist und deutete nach vorn auf den Boden. »Was ist geschehen?«
Der Waldgeist, der, wie man meinen konnte, weibliche Züge hatte, begann zu zischen und zu jammern. »Sie haben das Mädchen getötet. Geschändet und getötet.« Eine Träne lief die Wange des Waldgeistes hinab. »Menschen sind grausam. Warum tun sie das? Sie zerstören, sie vergiften, sie überrennen alles. Sie sind nicht besser als Orks.«
Rijana nahm Ariac an der Hand. Zögernd folgte er ihr. Im Moos auf der Lichtung lag eine junge Frau, deren gebrochene Augen noch immer in Entsetzen aufgerissen waren. Ganz offensichtlich war sie vergewaltigt und anschließend mit einem Dolch erstochen worden.
Rijana würgte und versteckte ihr Gesicht an Ariacs Schulter. Er streichelte sie und fragte: »Wer war das?«
Der Waldgeist kam auf ihn zugeschwebt, das Gesicht noch immer vor Wut verzerrt. »Männer, Männer in roten Umhängen. Sie können nur zerstören, sie sind böse.«
Rijana hob den Kopf. »Das wissen wir. Und wir wollen gegen sie kämpfen.«
Der Waldgeist blieb nun auf der Stelle stehen, oder eher schweben.
»Ihr seid anders«, murmelte er, oder sie, wie Rijana vermutete. »Ich heiße Shin«, sagte der Waldgeist und wirbelte um Rijana herum. »Ich kenne dich, du hast einmal einen kleinen Vogel gerettet.«
Rijana runzelte die Stirn, dann lächelte sie. Sie war vielleicht fünf Jahre alt gewesen, als sie einen kleinen Vogel, der aus dem Nest gefallen war, wieder hineingesetzt hatte. »Das stimmt, mein Name ist Rijana, und er heißt Ariac.«
Shin wirbelte um die beiden herum, dann beugte sie sich wieder über das tote Mädchen und begann zu jammern.
»Was ist das für ein Wesen?«, flüsterte Ariac ungeduldig, ihm war das alles nicht geheuer.
»Shin ist ein Waldgeist«, erklärte Rijana. »Sie zeigen sich eigentlich nie, außer manchmal bei Nebel oder wenn sie sehr
erzürnt sind. Sie beschützen die Bäume und den Wald. Sie gelten als die Hüter des Lebens. Wenn ein Leben unrechtmäßig genommen wird, dann werden sie sehr wütend.«
Mit gerunzelter Stirn blickte Ariac auf den Waldgeist, der nun wieder zu ihnen kam und sehr traurig wirkte.
»Meine Welt wird bald verschwinden. Keine Elfen mehr, die Bäume werden gefällt, Orks in den Bergen.« Shin heulte leise auf. »Keine Waldlinge mehr. Ich mochte sie, die kleinen Kerle waren immer so lustig.«
Rijana schluckte, der Waldgeist sah furchtbar traurig aus.
»Dann geh doch ins Land der tausend Flüsse, dort gibt es noch Elfen und Waldlinge.«
Shin begann um sie herumzutanzen und zu lachen, aber dann hielt sie inne und schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss bleiben und auf mein Land achten. Zumindest so lange, bis sich die Welt wandelt.«
Rijana und Ariac blickten sich ahnungslos an. Sie wussten nicht, was der Waldgeist meinte. Shin seufzte und setzte sich auf einen umgefallenen, mit Moos überzogenen Baumstamm.
»Das Land ist erzürnt, es wird sich erheben. Ihr müsst vorsichtig sein.«
Rijana nickte vorsichtig. »Wann wird es geschehen?«
Shin seufzte und fuhr zärtlich über das Moos. »Es geschieht schon die ganze Zeit über, aber wann sich die Welt endgültig wandelt, das weiß ich nicht.«
»Das haben die Elfen doch auch schon gesagt«, murmelte Ariac, und Rijana nickte.
Plötzlich fuhr Shin auf und zischte wie der Blitz in den Nebel. Rijana und Ariac blickten sich verwirrt an. Was sollte das
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