Thorn - Die letzte Rose
unterm Tisch befand und dessen Mund nie trocken wurde.
Leidenschaftslos entsicherte er die Waffe und beschloss zu warten, bis sie nahe genug herangekommen waren, um größtmöglichen Schaden anzurichten. Er machte sich nichts vor, auch das würde ihm nicht die Haut retten. Wenigstens würde er sie so teuer als möglich verkaufen.
Vorausgesetzt, es geschah kein Wunder.
*
Manchmal geschahen jedoch diese Wunder.
Mitunter waren sie epochal und weltweit in aller Munde, war man über CNN sogar live und in Farbe dabei. Oft genug waren sie jedoch unspektakulär, ähnlich dem alles entscheidenden Tropfen der Ursuppe, aus dem im Laufe von Jahrmilliarden mannigfaltiges Leben gediehen war. Nicht selten handelte es sich auch lediglich um Zufall, eine bizarre Laune von Mutter Moira, die im Hintergrund die Fäden zog. Oder Berechnung.
In jener Noviluniumnacht traf Letzteres zu.
Gleich dem heiseren Todesschrei eines waidwunden Greifen ertönte plötzlich ein durch Mark und Bein gehendes Brausen. Wie ein Skalpell durchschnitt das zornige Schnauben eines frisierten Motors die friedhofsartige Stille des Gassenlabyrinths.
Es war nicht irgendein Geräusch, sondern ein ganz besonderes. Ein hohes Sirren klang in den Ohren. Mehr noch: der Knappe kannte es! Unter allen anderen Geräuschen dieser Welt hätte er es erkannt.
Und es kam direkt auf sie zu!
Wie ein Berserker, direkt aufgestiegen aus dem Höllenpfuhl, tauchte seine silberbeschlagene Hurricane mit aufheulendem Gas am Eingang der Gasse auf. Abrupt wurde sie abgebremst und stieg vorne kurz hoch wie ein scheuendes Wildpferd. Vermutlich blieb dabei mindestens ein halbes Pfund Gummi auf dem Kopfsteinpflaster kleben, der vom Hinterreifen ausgehende Qualm stank erbärmlich und wehte in die Sackgasse.
Der zuckend grelle Lichtkegel des Scheinwerfers wanderte kurz quer durch die Gasse, strahlte Cesaro und die vier Sucker-Meister für einen Augenblick schillernd an und ließ die Schatten an der Wand zu Titanen werden.
Tief über den Lenker gebeugt saß eine Frau.
Er wusste sofort, wer sich seine Maschine unter den Nagel gerissen hatte; er kannte nur eine Person, die so halsbrecherisch fuhr.
Es überraschte den Knappen nicht, beim zweiten Blick schulterlanges, schlohweißes Haar zu erkennen. Weit standen zwei japanische Schwerter ab, die sich die Frau in den Gürtel geschoben hatte.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Gun-Man, seine Muskeln entspannten sich ein wenig, ohne dass die schrillen Alarmsirenen in seinem Kopf gänzlich ausgeschaltet wurden, dafür war es noch zu früh. Doch immerhin zerknüllte er sein insgeheim geschriebene Testament und warf es in den tiefsten Papierkorb der Ignoranz.
Heute Nacht würde jemand sterben, aber gewiss war es nicht er.
Allein Tatjana Thorns Anwesenheit schien die Gasse wie im Sturm einzunehmen.
Er war ihr noch nicht allzu oft begegnet. Zugegeben, letzte Woche in Köln hatten sie, auf der Suche nach Susanna, seiner Mutter, zusammengearbeitet. Dabei war ihm ein kleiner Fehler unterlaufen, indem er einen Mondvampir umgelegt hatte, den Thorn beschatten wollte. Später, gegen das Pack und Francine de Bors waren sie seines Erachtens ein tolles Team gewesen, auch wenn es Rotauge gelungen war, Susanna mit sich zu nehmen. Das war allerdings nicht sein Fehler gewesen, fand er.
Trotzdem wollte Thorn ihn nicht als Knappen ausbilden. Kaltlächelnd hatte sie seine Bitte abgelehnt mit der Begründung, sie spiele für niemanden das Kindermädchen.
Von diesem kurzen Intermezzo abgesehen kannte er sie so gut wie nicht. Natürlich, er hatte sämtliche Dossiers über sie studiert und war beeindruckt von ihrer Erfolgsbilanz, doch Dossiers hatten es so an sich, lediglich die kalten Fakten zu erwähnen und nichts über die Person dahinter festzuhalten.
Von ihrer Gabe, für einen imposanten Auftritt zu sorgen, war ihm allerdings schon berichtet worden. Er war beeindruckt!
Selbst die vier Sucker-Meister waren stehen geblieben und verharrten wie zu Salzsäulen erstarrt. Sie schienen viel zu überrascht zu sein von Thorns Auftauchen und waren zu nichts anderem fähig, als dumm herumzustehen und zu gaffen.
Cesaro erwartete, dass die Rosenritterin wie von einem Katapult abgeschossen aus dem Sattel der Hurricane schnellte, ihre Schwerter schwang und sogleich den ersten aus der Vampir-Mischpoke in zwei Teile schnitt, um sich dann ohne Umschweife den nächsten vorzunehmen. Jedenfalls er hätte das so gemacht, wenn auch ohne japanische
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