Thunderhead - Schlucht des Verderbens
hatte noch eine andere Schülerin namens Ursula Rein. Sie war ein echtes Wunderkind und unterrichtet heute an der Juilliard School. Wie dem auch sei, auf jeden Fall war Ursula direkt vor mir dran und spielte einen Walzer von Chopin doppelt so schnell wie üblich.« Sloanes Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. »Als mein Vater sie spielen hörte, zwang er mich auf der Stelle mit ihm den Saal zu verlassen. Es war mir furchtbar peinlich und ich war sehr wütend auf ihn. Ich hatte sehr lange geübt und gehofft, mein Vater würde stolz auf mich sein... Natürlich ließ er sich eine Entschuldigung einfallen; er sagte, er habe plötzlich Magenschmerzen bekommen, aber ich weiß, dass er ganz einfach fürchtete, dass ich bei dem Vorspielen nur als Zweitbeste abschneiden würde.« Sloane lachte. »Ich wundere mich noch immer darüber, weshalb er mich mit auf diese Expedition geschickt hat.«
Nora war der bittere Unterton in ihrem Lachen nicht entgangen. »Die Erziehung Ihres Vaters scheint Ihnen aber nicht geschadet zu haben«, meinte sie.
»Aber nur, weil ich sie nicht an mich herangelassen habe«, erwiderte Sloane und warf trotzig den Kopf herum.
Nora kam plötzlich der Gedanke, dass Sloane ihre Bemerkung vielleicht falsch aufgefasst haben könnte. »So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nur...«
»Und wissen Sie was?«, unterbrach Sloane, als hätte sie ihr gar nicht zugehört. »Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater mir jemals gesagt hätte, dass er mich liebt.«
Sie blickte zur Seite, und Nora wechselte das Thema. »Wissen Sie, was ich mich schon die ganze Zeit frage? Mit Ihrem Geld, Ihrem Aussehen und Ihrem Talent hätten Sie doch so gut wie alles machen können. Weshalb sind Sie denn ausgerechnet Archäologin geworden?«
Sloanes Lächeln kehrte wieder. »Warum fragen Sie das? Müssen Archäologinnen denn zwangsläufig arm, hässlich und dumm sein?«
»Natürlich nicht.«
Sloane lachte leise. »Das mit der Archäologie ist bei uns Familientradition, verstehen Sie? Die Rothschilds sind Bankiers, die Kennedys Politiker und die Goddards sind Archäologen. Ich bin das einzige Kind meines Vaters, und er hat mich von klein auf zur Archäologin erzogen. Ich war nie stark genug, ihn daran zu hindern.«
Auch bei ihr war es also der Vater, dachte Nora und sah Sloane ins Gesicht. »Mögen Sie denn die Archäologie?«
»Ich liebe sie«, erwiderte Sloane, in deren tiefer, voller Stimme nun ein leidenschaftlicher Ton mitschwang. »Ich denke ständig an all die wundervollen Dinge, die unter der Erde verborgen liegen, und an die Geheimnisse, die wir durch sie enträtseln können. Sie warten da unten auf uns, aber wir müssen schlau genug sein, um sie auch zu finden. Allerdings werde ich wohl nie eine so gute Archäologin werden, dass ich ihn zufrieden stellen könnte.« Sie hielt einen Augenblick lang inne und fuhr dann mit energischerer Stimme fort: »Es ist zwar grotesk, aber wenn ich tatsächlich Quivira finden sollte, wird man sich nicht an mich erinnern, sondern an ihn. Nicht ich werde wie Wetherill und Earl Morris in die Geschichtsbücher eingehen, sondern er.« Sloane unterstrich ihre Worte mit einem harten Lachen. »Ist das nicht eine Ironie des Schicksals?«
Nora wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
Sloane ließ sich auf ihren Schlafsack fallen. Sie seufzte und strich sich die Haare mit einem Finger aus der Stirn. »Haben Sie einen Freund?«, fragte sie. Nora überlegte kurz, ob sie nicht wieder das Thema wechseln sollte, aber dann antwortete sie doch. »Nicht so richtig. Und wie steht es mit Ihnen?«
»Ich auch nicht. Oder sagen wir mal so: Die, die ich habe, würde ich sofort sausen lassen, wenn mir der Richtige über den Weg liefe.« Sloane schwieg eine Weile, als würde sie über etwas nachdenken. »Und was halten Sie von unseren Expeditionsgefährten? Als Männer meine ich.«
Nora zögerte abermals. Eigentlich mochte sie nicht auf diese Weise über Menschen sprechen, die unter ihrer Leitung standen, aber die wohlige Wärme in ihrem Schlafsack und das bezaubernde Licht der Sterne, die ihr so nah vorkamen, als könne man sie mit den Händen greifen, ließen sie ihre Prinzipien vergessen. »Unter diesem Aspekt habe ich sie eigentlich noch gar nicht so richtig betrachtet«, sagte sie.
Sloane lachte leise. »Also ich schon. Und ich habe Smithback für Sie ausgesucht.«
Nora setzte sich auf. »Smithback?«, wiederholte sie ungläubig. »Der Kerl ist doch unausstehlich!«
»Aber er könnte
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