Thunderhead - Schlucht des Verderbens
Studium der Karten her wusste Nora, dass der Fluss in Form einer ganzen Reihe von. Wasserfällen und Becken nach unten stürzte, die alle durch bis zu zehn Meter lange, überhängende Felsen voneinander getrennt waren. Ohne eine spezielle Kletterausrüstung war es unmöglich, hier weiter vorzudringen. Außerdem wurde der Canon weiter unten so schmal, dass kein Mensch durchkommen konnte. Laut Karte verlief der Fluss fünfundzwanzig Kilometer weit auf diese Art, bis er sich schließlich am Nordrand von Marble Gorge in den dreihundert Meter tiefer gelegenen Colorado River ergoss. Wer hier von einer Sturzflut erfasst und in den Slot-Canon gespült wurde, würde bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt dort irgendwann einmal wieder herauskommen.
Nora ging zurück zu dem Felssturz. Im Schatten der Felswände war es so kühl, dass sie leicht zu frieren begann. Die riesigen, übereinander getürmten Gesteinsblöcke, zwischen denen sich unzählige dunkle Löcher und Hohlräume befanden, sahen aus wie eine Wohnstatt von Gespenstern. Weil sie zudem ziemlich wackelig aufeinander lagen, beschloss Nora, lieber nicht an ihnen hochzuklettern. Außerdem war die Wand hinter ihnen absolut glatt und wies keinerlei Spuren eines Klettersteigs auf.
Nora watete durch den Fluss und traf auf der anderen Seite Sloane, die soeben ihre eigene Erkundungstour beendet hatte. Ihre mandelförmigen Augen leuchteten jetzt nicht mehr.
»Na, was gefunden?«, fragte Nora.
Sloane schüttelte den Kopf. »Ich kann mir immer weniger vorstellen, dass sich in diesem Tal eine Stadt verbergen soll. Es ist nicht der kleinste Hinweis darauf zu finden.«
Als Nora sah, dass Sloane nicht einmal mehr zu ihrem typischen leicht schiefen Lächeln in der Lage war, ihrem Markenzeichen, wurde ihr klar, dass die Stadt für die Tochter von Dr. Goddard mindestens genauso wichtig war wie für sie selbst. »Bisher gibt es keine Anasazi- Straße, die einfach so im Nirgendwo endet«, sagte sie. »Irgendetwas muss doch hier sein!«
»Vielleicht«, erwiderte Sloane bedächtig und blickte wieder hinauf zu den Felswänden ringsum. »Aber wenn ich nicht Ihre Radarbilder gesehen hätte, dann würde ich nicht glauben, dass wir in den letzten zwei Tagen irgendeiner Art von Straße gefolgt sind.«
Die Sonne stand jetzt so tief, dass der gesamte Talboden im Schatten lag. »Hören Sie, Sloane«, sagte Nora, »wir haben doch mit der Suche nach der Stadt noch gar nicht richtig begonnen. Morgen früh werden wir uns noch einmal gründlich umsehen, und wenn wir dann immer noch nichts finden, holen wir das Protonenmagnetometer und suchen damit nach Strukturen unter dem Sand.«
Sloane starrte noch immer angestrengt hinüber zu den Klippen, als könne sie ihnen damit ihr Geheimnis entreißen. Dann sah sie Nora an und lächelte. »Vielleicht haben Sie ja Recht«, meinte sie. »Lassen Sie uns Feuer machen und unsere Sachen trocknen.«
Nachdem sie eine flache Mulde aus dem Sand gescharrt und mit einem Ring von Steinen umgeben hatten, sammelten sie Holz und zündeten ein Feuer an. Dann setzte sich Nora vor die prasselnden Flammen und wechselte die durchnässten Verbände an ihren Fingern. Die feuchten Schlafsäcke, die sie an die Äste einer Zwergeiche gehängt hatten, begannen in der Hitze leicht zu dampfen.
»Was glauben Sie wohl, dass uns Bonarotti in seine Care-Pakete getan hat?«, fragte Sloane, während sie weiteres Holz ins Feuer warf.
»Sehen wir doch mal nach«, entgegnete Nora und griff nach dem kleinen Päckchen, das der Koch ihr in die Hand gedrückt hatte. Neugierig wickelte sie es aus und entdeckte zwei wasserdichte Plastikbeutel. In einem waren kleine Nudeln und im anderen eine Art Kräutersoße. K OCHZEIT SIEBEN M INUTEN stand mit schwarzem Filzstift auf dem ersten Beutel; ÜBER DIE WARMEN NUDELN GEBEN auf dem zweiten.
Die beiden Frauen kochten die Nudeln und mischten sie dann mit der Soße. Aus dem Geschirr stieg ein wunderbarer Duft auf.
»Farfalle mit Pesto«, flüsterte Sloane. »Ist Bonarotti nicht ein Schatz?«
Nachdem sie die Nudeln mit Genuss verspeist hatten, wandten sie sich Sloanes Ration zu, die aus Linsen und luftgetrocknetem Gemüse in einer Curry-Rinderbrühe bestand. Danach wuschen sie das Kochgeschirr im Fluss, und Nora legte ihren inzwischen getrockneten Schlafsack in den weichen Sand neben dem Feuer. Nachdem sie ihre nassen Kleider ausgezogen hatte, kroch sie nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet in den Sack, wo sie ihre Glieder reckte und die saubere Luft des
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