Thunderhead - Schlucht des Verderbens
Morgensonne tauchte sie in ein hartes Streiflicht, das jede noch so kleine Erhebung auf dem glatten Sandstein deutlich hervortreten ließ.
Noras Augen wanderten weiter nach oben, bis ihr auf einmal etwa zwölf Meter über dem Boden etwas auffiel, das sie am vergangenen Tag übersehen hatte. Es war eine einzelne flache Kerbe, die aber natürlichen Ursprungs zu sein schien. Dennoch kramte Nora noch einmal das Fernglas aus ihrem Rucksack hervor und richtete es auf die Stelle in der Wand. Da war sie, die kleine Vertiefung, dreißig Zentimeter unterhalb eines schmalen Felssimses. In der Vergrößerung wirkte sie weniger natürlich als mit dem bloßen Auge und hätte gut und gerne auch ein Teil eines Klettersteigs sein können. Aber wo war der Rest davon abgeblieben?
Als sie das Fernglas ein wenig senkte, bekam sie die Antwort auf ihre Frage. Unterhalb der Kerbe war ein großes Stück des Wüstenlacks abgebrochen, einer dunklen Oxidationsschicht, die sich im Lauf der Jahrhunderte auf dem Sandstein gebildet hatte. Nora erkannte das an der helleren, frischeren Farbe der Wand sowie an einem kleinen Schutthaufen am Fuß der Klippe. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie drehte sich um und bemerkte, wie Sloane sie fragend ansah. »Schauen Sie sich das einmal an«, sagte sie, während sie hinauf zur Felswand deutete und Sloane das Fernglas reichte. Sloane hob das Glas an die Augen und erstarrte.
»Das ist eine Moqui- Kerbe«, hauchte sie atemlos, »der oberste Teil eines Klettersteigs. Der Rest muss weggebrochen sein. Tatsächlich, da liegt ja der Schutt unten am Boden. Wie konnte ich nur so dumm sein? Ich habe den Haufen nach Artefakten untersucht und bin dabei nicht auf den Gedanken gekommen, dass...«
»Das Stück Wand muss abgeblättert sein, nachdem mein Vater hier war«, sagte Nora.
Sloane holte bereits das Seil und ihre Kletterutensilien aus ihrem Rucksack.
»Was haben Sie vor?«
»Ich werde eine kleine Freihandkletterei veranstalten«, antwortete Sloane.
»Sie wollen doch nicht etwa diese Wand da hinauf?«
»Und ob ich das will!« Sie zog sich bereits die Wanderstiefel aus, um in ihre Kletterschuhe zu schlüpfen.
»Und was ist mit mir?«, fragte Nora.
»Was soll mit Ihnen sein?«
»Ohne mich klettern Sie da nicht hinauf.«
Sloane stand auf und nahm das mit schwarzen Fäden durchschossene Seil auf. »Sind Sie denn schon mal geklettert?«
»Ein paar Mal, allerdings nur kleinere Touren. Aber ich habe in einem Klettergarten trainiert.«
»Und was ist mit Ihren Händen?«
»Das geht schon. Ich werde mir meine Handschuhe anziehen.«
Sloane zögerte einen Augenblick. »Ich habe nur einen Klettergurt dabei«, sagte sie. »Sie müssen mich also bloß mit dem Seil sichern,«
»Geht in Ordnung.«
»Dann lassen Sie uns mal loslegen«, sagte Sloane und grinste Nora strahlend an.
Kurze Zeit später waren die beiden Frauen am Fuß der Wand. Sloane schlang sich das Seil in einer Acht um den Leib und erklärte Nora, wie sie sich hinstellen und die Sicherungsklemme bedienen musste. Nora führte das Seil hinter ihrem Rücken vorbei, während Sloane sich die Hände mit Talkum einpuderte. Dann drehte Sloane sich zur Wand. »Ich klettere los«, verkündete sie laut und deutlich.
Nora beobachtete, wie sich Sloane vorsichtig langsam die Wand hinauf bewegte, wobei sie sich an winzigen, kaum sichtbaren Felsvorsprüngen festhielt. Die Karabiner und Haken an ihrem Gürtel klapperten leise. Nora gab mehr Seil und sah zu, wie Sloane in fünf Metern Höhe einen Haken in einen Riss in der Wand schlug und ihn mit einem kurzen Ruck auf Festigkeit prüfte. Als sie mit seinem Sitz zufrieden war, befestigte sie einen Karabiner daran und hängte das Seil ein. Dann kletterte sie weiter die Wand hinauf, wobei sie noch mehrere Haken einschlug. Einmal rief sie: »Vorsicht, Steinschlag!« Nora zog schnell den Kopf ein und hörte, wie einige kleinere Felsbrocken herabpolterten. Eine Minute später hatte Sloane die von Nora entdeckte Kerbe erreicht und schwang sich auf den Sims, der sich darüber befand. Sie schlug einen weiteren Haken ein, hängte das Seil daran und rief: »Sicherung los!«
Einen Augenblick lang war alles still. Dann tönte Sloane von oben: »Ich sehe einen Klettersteig!« Ihre Worte wurden von den Felswänden des Tales zurückgeworfen. »Er führt sechzig Meter nach oben und verschwindet dann hinter einem weiteren Felssims. Wahrscheinlich versteckt sich die Stadt in einem darüber gelegenen Alkoven!«
»Ich komme
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