Thunderhead - Schlucht des Verderbens
Magnetometer absuchen lassen, aber mir ist bisher noch keine verborgene Ruine untergekommen, die nicht wenigstens ein paar sichtbare Spuren hinterlassen hätte. Und hier habe ich überhaupt nichts gefunden. Weder eine Tonscherbe noch ein Stück Feuerstein. Dieses Tal ist wie leer gefegt.«
Nora stellte ihre Tasse auf den Boden. »Das kann ich kaum glauben.«
»Sehen Sie doch selbst nach«, entgegnete Sloane mit einem Achselzucken.
»Das werde ich auch.«
Nora begab sich an den Fuß der nächsten Felswand und ging entgegen dem Uhrzeigersinn an ihr entlang, bis sie das ganze Tal umrundet hatte. An den Fußspuren konnte sie erkennen, wo Sloane schon überall gewesen war. Nora nahm ihr Fernglas zur Hand und suchte damit systematisch die Klippen, Felsvorsprünge und Simse über sich ab. Als sie damit fertig war, ging sie zwanzig Schritte weiter und begann die Prozedur von neuem. Das Licht der aufgehenden Sonne warf wechselnde Schatten auf die Felswände, die sich von Minute zu Minute veränderten. Jedes Mal, wenn Nora stehen blieb, zwang sie sich, das soeben Besehene noch einmal aus einem anderen Winkel zu betrachten. Dabei suchte sie angestrengt nach jeder Spur, die auf die einstige Anwesenheit von Menschen schließen ließ: nach in die Wand geschlagenen Klettermulden, einem behauenen Stein, einer verwitterten Felszeichnung. Nachdem sie ihre Runde beendet hatte, durchstreifte sie das Tal von Nord nach Süd und von Ost nach West, wobei sie wiederholt durch den kleinen Fluss watete. Immer wieder starrte sie zu den Felswänden hinauf und versuchte, sie von jedem nur erdenklichen Standpunkt aus zu betrachten.
Neunzig Minuten später kam sie völlig durchnässt und erschöpft zu der Feuerstelle zurück und setzte sich wortlos neben Sloane, die ebenfalls stumm dasaß und mit einem kleinen Stock Kreise in den Sand zeichnete.
Nora dachte an ihren Vater und all die schrecklichen Dinge, die ihre Mutter im Lauf der Jahre über ihn gesagt hatte. Hatte sie damit am Ende womöglich doch Recht gehabt? War er tatsächlich nichts weiter als ein vertrauensunwürdiger und unzuverlässiger Fantast gewesen?
Zehn bis zwanzig Minuten saßen die beiden Frauen schweigend am heruntergebrannten Feuer. Die ganze Wucht ihrer kolossalen Niederlage lastete auf ihnen.
»Wie sollen wir das nur den anderen beibringen?«, fragte Nora' schließlich.
Sloane warf mit einer raschen Kopfbewegung ihre Haare nach hinten. »Wir werden jetzt nicht aufgeben«, erklärte sie. »Schließlich können wir nicht einfach umkehren, ohne dieses Tal nach allen Regeln der Kunst untersucht zu haben. Also lassen Sie uns die Ausrüstung hierher schaffen, und bringen wir es hinter uns. Anschließend packen wir alles wieder zusammen und kehren zurück: Sie an Ihren Schreibtisch und ich...«, sie hielt einen Augenblick lang inne, »... zu meinem Vater.«
Nora sah Sloane von der Seite an. Ihr Gesicht mit den bernsteinfarbenen Augen hatte einen düsteren, fast gequälten Ausdruck angenommen. Als sie Noras Blick bemerkte, entspannten sich ihre Züge wieder.
»Aber ich blase ja Trübsal wie ein Schulmädchen«, meinte sie, während ihr gewohntes Lächeln wiederkehrte. »Dabei sind Sie diejenige, die eigentlich getröstet werden müsste. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Leid es mir tut, Nora. Sie müssen wissen, wie sehr wir alle an Ihren Traum geglaubt haben.«
Nora sah hinauf zu den hohen, das Tal einschließenden Klippen, deren glatter Sandstein nicht den geringsten Hinweis auf einen Klettersteig trug. In dem gesamten Canon-System hatten sie bisher keine einzige Ruine entdecken können, und dieses Tal stellte keine Ausnahme dar. »Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte sie. »Ich kann nicht fassen, dass ich alle umsonst hierher gehetzt habe, dass ich für nichts und wieder nichts das Geld Ihres Vaters zum Fenster hinausgeworfen, unser Leben riskiert und Swires Pferde umgebracht habe.«
Sloane nahm Noras Hand und drückte sie mitfühlend. Dann stand sie auf. »Lassen Sie uns gehen«, sagte sie. »Die anderen warten schon auf uns.«
Nora verstaute ihre Sachen im Rucksack und schulterte ihn missmutig. Ihr Mund fühlte sich unangenehm trocken an, und die Aussicht auf die kommenden Tage, die sie mit hoffnungsloser, vergeblicher Arbeit würden zubringen müssen, erschien ihr fast unerträglich. Noch einmal blickte sie zu den Felswänden hinauf und betrachtete dieselben Stellen, die sie schon am Abend zuvor mit dem Fernglas abgesucht hatte. Die schräg einfallende
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