Thunderhead - Schlucht des Verderbens
absurdeste Theorie, die ich je gehört habe«, sagte Black. »Bisher gibt es weder Beweise für einen aztekischen Einfluss auf die Kultur der Anasazi noch für das Vorhandensein von Sklaverei. Das, was Sie gerade gesagt haben, widerspricht sämtlichen archäologischen Erkenntnissen der letzten hundert Jahre.«
»Moment mal«, wandte Nora ein. »Lassen Sie uns Enriques Gedanken nicht vorschnell verwerfen. Schließlich hat bisher noch niemand eine so intakte Stadt wie Quivira entdeckt, und diese Theorie würde nicht nur ihre seltsame Lage erklären, sondern auch viele andere Rätsel, auf die wir hier gestoßen sind. Nehmen Sie zum Beispiel die Hinweise, dass die Stadt ein Zentrum für Pilger war.«
»Und ihren sagenhaften Reichtum«, ergänzte Sloane nachdenklich. »Vielleicht waren wir ja mit der Annahme, dass die Bewohner von Quivira Handel mit den Azteken getrieben haben könnten, auf dem falschen Dampfer. Es wäre gut möglich, dass die Azteken als Eroberer kamen, eine Oligarchie etablierten und ihre Macht durch Rituale wie Menschenopfer und Kannibalismus sicherten.«
Als Smithback sich anschickte, eine Frage zu stellen, hörte Nora aus der Feme einen Schrei. Fast gleichzeitig drehten sich alle Köpfe in Richtung Slot-Canon, wo sich Swire wie ein Besessener durch das Gestrüpp kämpfte.
Als er am Lager angelangt war, blieb er schwer atmend stehen. Nora starrte den von der Kletterei noch vollkommen durchnässten Cowboy entgeistert an. Mit Wasser vermischtes Blut tropfte ihm aus den Haaren auf sein Hemd, das an den Schultern eine rosarote Färbung angenommen hatte.
»Was ist denn los?«, fragte Nora scharf.
»Meine Pferde«, keuchte Swire und rang nach Luft. »Jemand hat ihnen den Bauch aufgeschlitzt.«
32
N ora hob die Hände, um die anderen, die wild durcheinanderredeten, zur Ruhe zu bringen. »Roscoe«, sagte sie. »Erzählen Sie uns genau, was passiert ist.«
Swire, der einer stark blutenden Wunde an seinem Oberarm keine Beachtung schenkte, hockte sich schwer atmend neben die anderen. »Ich bin heute früh wie üblich um drei Uhr aufgestanden und war gegen vier bei den Pferden. Sie waren in den nördlichen Teil des Tales gewandert, vermutlich, weil sie dort nach besserem Gras suchten. Als ich sie fand, waren sie schweißnass.« Er hielt einen Augenblick inne. »Zuerst dachte ich, dass ein Puma sie gejagt hätte, denn Hoosegow und Crow Bait fehlten. Aber dann fand ich die beiden... Oder besser gesagt das, was von ihnen übrig war, und sah, dass jemand sie aufgeschlitzt hatte wie...« Seine Miene verdunkelte sich. »Wenn ich diese Dreckstypen erwische, die das getan haben, dann werde ich sie...«
»Wieso gehen Sie davon aus, dass es Menschen waren?«, fragte Aragon.
»Weil man sie fachgerecht ausgeweidet hat. Sie haben ihnen den Bauch aufgeschlitzt, ihre Eingeweide herausgeholt und...« Swire verstummte.
»Und?«
»Und sie auf ganz merkwürdige Weise hindrapiert.«
»Wie bitte?«, hauchte Nora.
»Jemand hat ihnen die Gedärme aus dem Bauch gezogen und sie in Form einer Spirale auf dem Boden angeordnet. Außerdem hat man ihnen Stöcke mit Federn in die Augen gesteckt.«
»Haben Sie irgendwelche Fußspuren gefunden?«
»Nein. Vermutlich wurde die Tat von Reitern verübt.«
Bei der Erwähnung der Spiralen und der Federstöcke war es Nora eiskalt den Rücken hinuntergelaufen. Wie aus weiter Feme hörte sie Smithback sagen: »Jetzt machen Sie aber mal halblang. Kein Mensch kann so etwas vom Rücken eines Pferdes aus tun.«
»Aber es gibt keine andere Erklärung«, fauchte Swire. »Ich habe doch schon gesagt, dass keine Fußspuren da waren. Aber...« Er hielt ein weiteres Mal inne. »Gestern Abend, als ich das Tal verließ, dachte ich, ich hätte auf dem Kamm des Bergrückens einen Reiter gesehen. Er saß auf seinem Pferd und schaute zu mir herab.«
»Warum haben Sie mir denn nichts davon erzählt?«, fragte Nora.
»Die Sonne ging gerade unter, und ich war mir nicht sicher, ob ich nicht einer Sinnestäuschung erlegen war. Was hätte auch ein Reiter auf diesem verdammten Berg da verloren? Wer sollte das Risiko auf sich nehmen und dort hinaufreiten?«
Ja, wer?, dachte Nora. Seit Beginn der Expedition war sie felsenfest davon überzeugt gewesen, die Gestalten, die sie auf der Ranch angegriffen hatten, weit hinter sich gelassen zu haben. Aber vielleicht waren sie ihr ja dennoch gefolgt. Doch wer verfügte über die Fähigkeiten, ganz zu schweigen von der Entschlusskraft, durch diese karge und raue
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