Thunderhead - Schlucht des Verderbens
klitschnass an der Stirn klebten, spürte sie eine Welle der Zuneigung in sich aufsteigen. »Meinen Sie, Sie können sich noch einmal bewegen?«, fragte sie.
»Wieso?«
»Weil ich finde, dass wir von hier fort sollten.«
Smithbacks braune Augen sahen sie fragend an.
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, erklärte sie. »Und egal, was es auch ist, ich würde es mir lieber aus der Feme betrachten.« Sie gab ihm ein paar Schmerztabletten und reichte ihm eine Feldflasche mit Wasser. Dann begann sie die schlimmen Wunden an seinem Rücken zu verbinden. Smithback biss die Zähne zusammen. Er protestierte nicht.
»Wieso beschweren Sie sich eigentlich nicht?«, wollte Nora wissen.
»Keine Ahnung«, knurrte er. »Wahrscheinlich bin ich noch immer vom kalten Wasser betäubt.«
Smithback zitterte am ganzen Körper, seine Stirn war feuchtkalt. Er steht unter Schock, dachte Nora. Der Regen draußen nahm nun ständig an Stärke zu, und der Wind rüttelte an den Wänden des Zeltes. Bei diesem Wetter konnte sie den verletzten Smithback nirgendwo hinbringen.
»Bleiben Sie liegen«, sagte Nora und packte Smithback vorsichtig in einen Schlafsack ein. »Ich will sehen, ob ich Ihnen nicht etwas Warmes zu trinken machen kann.« Sie fuhr ihm mit der Hand zärtlich über die Wange und kroch aus dem Zelt.
Als sie schon fast draußen war, hörte sie, wie Smithback ihr mit schwacher Stimme nachrief. »Nora!«
»Ja?«, fragte sie und drehte sich um.
Smithback sah sie an. »Nora«, wiederholte er. »Wissen Sie, nach all dem, was zwischen uns geschehen ist... Nun, ich würde Ihnen gerne sagen, wie ich mich fühle.«
Sie starrte ihn an. Dann kroch sie zurück neben ihn und nahm seine Hand in die ihre. »Und?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Ich fühle mich wie ein Stück Scheiße«, hauchte er mit trockener Stimme.
Nora schüttelte den Kopf und musste lachen. »Sie sind einfach unverbesserlich, Bill!« Dann beugte sie sich über ihn und küsste ihn zweimal hintereinander sanft und zärtlich auf die Lippen.
»Bitte, Frau Chefin, mehr davon«, murmelte Smithback.
»Jetzt nicht, du Frechdachs«, entgegnete Nora lächelnd und verließ das Zelt. Nachdem sie den Eingang von außen verschlossen hatte, ging sie mit eingezogenem Kopf durch den Regen hinüber zu Bonarottis Vorratszelt.
58
S loane Goddard stand im Halbdunkel des Kivas und blickte auf die Reihen schimmernder Gefäße. Lange Zeit konnte sie gar nichts anderes mehr wahrnehmen. Es kam ihr vor, als bestünde die Welt nur noch aus diesem eng begrenzten Raum. Während sie verzückt vor sich hin starrte, vergaß Sloane Holroyds Tod, die Sturzflut, Noras, Aragons und Smithbacks Ende und auch die Pferdekiller, die irgendwo da draußen herumschlichen.
Bisher hatte man nur sehr wenige Scherben Schwarz-auf-gelb-Goldglimmerkeramik gefunden, und dass sie jetzt Dutzende von vollkommen intakten Gefäßen in diesem Stil vor sich sah, kam Sloane einer Offenbarung gleich. Die Stücke waren von einer geradezu transzendentalen Schönheit und bei weitem die exquisitesten Tongefäße, die Sloane in ihrem ganzen Leben je gesehen hatte. Jedes einzelne war von seinem Schöpfer perfekt geformt und danach mit glatten Steinen zu diesem sinnlichen Glanz poliert worden. Die Stücke bestanden aus einem speziellen Ton, der beim Brennen ein intensives Gelb annahm, aber ihren unnachahmlichen, wie von innen heraus leuchtenden Schimmer erhielten sie dadurch, dass man ihnen fein zermahlenen Goldglimmer beigemengt hatte. Als Sloane die unzähligen Schüsseln, Becher und Töpfe, die buckligen Figuren und die Schädel betrachtete, die alle aus diesem unvergleichlichen Material geformt waren, hatte sie das Gefühl, etwas sehr viel Schöneres und Wertvolleres als Gold vor sich zu haben. Diese Keramik hatte eine Wärme und Lebendigkeit, die dem kalten Metall völlig abging. Jedes einzelne Stück war mit unglaublich kunstfertigen geometrischen Linien oder Tiermustern verziert, unter denen keines der zahlreichen Piktogramme der Anasazi fehlte.
Genau so hatte Sloane sich den Inhalt des Sonnen-Kivas vorgestellt: als einen Hort jener Goldglimmerkeramik, deren Erforschung sich ihr Vater seit über dreißig Jahren verschrieben hatte. Akribisch hatte er den Fundort jeder einzelnen Scherbe genauestens festgehalten, hatte mögliche Handelsrouten für diese Töpferwaren erforscht und vergeblich nach ihrem Herstellungsort gesucht. Weil es nur so wenige Scherben gab, hatte ihr Vater die Theorie
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