Thunderhead - Schlucht des Verderbens
unzähligen kleinen Fächern, die der Koch wie seinen Augapfel hütete.
»Keine Ahnung«, antwortete Nora.
»Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie er das zu Stande gebracht hat.«
»Ab morgen gibt es dann bestimmt Salzfleisch und Schiffszwieback. Denken Sie an meine Worte.«
Die beiden lachten herzlich und unbekümmert, aber dann wandte Aragon den Blick wieder starr nach vom, hinaus auf den See und die wie Bollwerke aufragenden Felswände.
»Waren Sie schon einmal hier?«, fragte Nora.
Ein Ausdruck starken Gefühls glitt über Aragons düsteres Gesicht. »Das kann man wohl sagen«, erwiderte der Mexikaner, der sich rasch wieder in der Gewalt hatte.
»Es ist ein schöner See«, fuhr Nora fort, die nicht wusste, wie sie den A'Iann in ein Gespräch verwickeln sollte.
Aragon starrte weiterhin schweigend hinaus aufs Wasser. Nach einer Weile drehte er sich um und sagte: »Seien Sie mir nicht böse, aber da bin ich ganz anderer Meinung.«
Nora musterte ihn erstaunt.
»Anfang der Sechzigeijahre war ich Mitglied einer Expedition, die versuchte, in einer Notgrabung noch ein paar archäologische Stätten im Gien Canon zu dokumentieren, bevor sie für immer im Lake Powell versanken.«
Plötzlich verstand Nora, was Aragon bedrückte. »Gab es denn viele prähistorische Stätten hier?«
»Alles in allem konnten wir an die fünfunddreißig dokumentieren und zwölf teilweise ausgraben, bis das Wasser kam. Aber die Schätzungen gehen von etwa sechstausend Stätten aus. In dieser Zeit begann ich kritisch darüber nachzudenken, ob unsere Ausgrabungsmethoden wirklich zweckmäßig sind. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich ein Kiva ausgeschaufelt habe - ausgeschaufelt, können Sie sich das vorstellen? -, als das Wasser schon einen Meter unter mir stand. Ich weiß, dass man ein Heiligtum nicht so behandeln darf, aber was sollte ich anderes tun? Das Wasser hat uns dazu gezwungen. «
»Was ist denn ein Kiva?«, fragte Smithback und trat mit seinen knarzenden, nagelneuen Cowboystiefeln einen Schritt näher an die Reling heran. »Und wer sind bitteschön die Anasazi?«
»Ein Kiva ist ein kreisrundes, halb in die Erde gegrabenes Gebäude, in das man normalerweise durch ein Loch in der Decke gelangt«, erklärte Nora. »Den Anasazi diente es als Kult- und Versammlungsstätte. Die Anasazi wiederum waren Indianer, die vor tausend Jahren hier in dieser Gegend lebten. Sie haben Städte errichtet, aber um das Jahr 1150 herum verließen sie das Gebiet um den Chaco Canon und zogen sich in schwer zugängliche Klippensiedlungen zurück. Hundertfünfzigjahre später ist ihre Zivilisation dann ganz untergegangen.«
Inzwischen war auch Black zu der Gruppe gestoßen. »Waren es eigentlich bedeutende Stätten, die Sie damals im Gien Canon gefunden haben?«, fragte er Aragon, während er mit einem Zahnstocher in seinem Mund herumpuhlte.
Aragon sah ihn an. »Gibt es denn überhaupt unbedeutende archäologische Stätten?«
»Aber natürlich!«, schnaubte Black. »Manche Ruinen bergen nun mal mehr Informationen als andere. Ein paar ausgestoßene Anasazi, die zehn Jahre lang in irgendeiner Höhle ein Dutzend Zeichnungen in die Wände geritzt haben, hinterlassen nun mal weniger Informationen als tausend Einwohner eines Pueblos, das ein paar hundert Jahre lang bewohnt wurde.«
Aragon maß Black mit einem kühlen Blick. »Ich finde, dass eine einzige Keramik der Anasazi genügend Informationen enthält, um einen Forscher sein ganzes Berufsleben lang zu beschäftigen. Meiner Meinung nach gibt es keine unwichtigen Stätten, wohl aber uninspirierte Archäologen.«
Blacks Miene verfinsterte sich.
»Was für Stätten haben Sie denn damals im Gien Canon ausgegraben?«, fragte Nora rasch dazwischen.
Aragon deutete auf die Wasserfläche, die gerade an Steuerbord vorbeiglitt. »Da drüben liegt in einer Tiefe von einhundertzehn Metern der Musiktempel.«
»Der Musiktempel?«, wiederholte Sinithback.
»Das ist eine große Höhle in einer Felswand, wo der Wind und das Wasser des Colorado ganz eigentümliche, fast übernatürlich klingende Geräusche produzierten. John Wesley Powell hat ihn entdeckt und ihm seinen Namen gegeben. Wir haben den Boden des Musiktempels ausgegraben und eine seltene, archaische Stätte gefunden, zu der noch eine ganze Reihe kleinerer Stätten in der unmittelbaren Umgebung gehörten.« Er deutete in die andere Richtung. »Und da drüben war der so genannte Wishing Well, eine PuebloIII-Klippensiedlung mit acht
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