Thurner, M: Elfenzeit 18: Rache der Verbannten
während sie auf ihrem Haupt ausfielen. Vielleicht überfiel sie bald ein unbändiges Hungergefühl, das nur mit Bodenwürmern und fahlen Nachtgewächsen zu stillen war …
Da gingen
ihre
Leute. Der letzte Zwerg der Kolonne sah sich nach ihr um, brummte erleichtert und deutete ihr, sich in die Formation einzuordnen.
Geschafft! Nadja holte tief Luft. Die gröbste Gefahr war gebannt.
Es ging tiefer und tiefer. Vorbei an Nischen, einmündenden Seitengängen, Seil- und Hängebrücken, Rutschen und als Schlafstellen verwendeten Loren. Fledermäuse huschten aus Nebenhöhlen, um sich auf die Jagd zu begeben. Da und dort ließen sich vierbeinige Toykten blicken. Sie nagten mit ihren säuregefüllten Hohlzähnen an erzhaltigem Schutt, während ihre nagelgespickten Schwänze bedrohlich auf den Boden klopften. Die Zwerge hatten in weiser Voraussicht Abräumhaufen hinterlassen, um die Toykten friedlich zu stimmen. Die armlangen Tiere konnten zu respektablen Gegnern werden, wenn sie zu wenig zum Fressen hatten.
Je weiter es abwärts ging, desto mehr wuchs die Zufriedenheit, die Nadja empfand. Kein Gruppenmitglied sprach ein Wort; die Zwerge hatten eine harte Schicht hinter sich und waren nun selbst zum Singen zu müde.
Nadja musste husten. Sie spuckte Schleim auf den Boden, wischte sich mit ihrem Taschentuch über den Mund und rubbelte sich mit derselben Handbewegung Schweiß von der Stirn …
Verdammt!
Ihr Verdacht bestätigte sich: Sie veränderte sich zunehmend, wurde allmählich
wirklich
zu einem Lyonesse-Zwerg. Eine schwere Last lastete auf ihrem Rücken, und sie fühlte unbändige Lust in sich wachsen, je weiter sie sich dem Boden des Aushubloches näherte.
Nadja schwindelte. Der langwierige Marsch gegen den Uhrzeigersinn brachte ihren Orientierungssinn gehörig durcheinander. Doch es gab andere, viel effektivere Methoden, sich im Inneren jenes Berges zurechtzufinden, auf dem der Rosen-Palast ruhte: Sie brauchte lediglich ihre Nase am Gestein zu reiben oder mit der Zunge über silbrige Fäden der Feuchtigkeit zu lecken … Die immer deutlicher spürbare Ley-Ader wurde ihr zur Leitlinie, wurde zum Pol, nach dem sie ihre Orientierung ausrichten konnte. Alles rings um sie ergab allmählich einen Sinn. Sie verstand, warum es Links- und Rechtszwerge geben musste, warum sie wie die Seiten einer Münze waren und niemals untereinander Kinder zeugen durften. Sie fühlte die alte Zeit, die dem Gestein innewohnte und das Lebenstempo seiner Bewohner lenkte. Sie roch die wertvollen Lebensadern, die ihrer Existenz als Zwerg einen Sinn gaben …
Talamh hatte sie auf die vielfältigen Gefahren vorbereitet, die ihr im Reich der Lyonesse-Zwerge drohten. Aber nicht darauf, dass sie selbst
verzwergen
würde.
Die Sohle des Aushublochs war fast erreicht. Wasser spülte mit sanften Wellen gegen die steinernen Uferränder. Licht, das über ein raffiniertes Spiegelsystem herabgeleitet wurde, beleuchtete Berge von Edelsteinen und Schmuckstücken im See. Ein unermesslich großer Schatz ruhte dort, behütet und bewacht von Heerscharen grimmig dreinblickender Zwerge. Sie umlagerten das Gewässer oder trieben auf riesigen Blättern dahin, die sie als Schlafstätten nutzten. Ihrer aller Augen glänzten; Hunderte Paare blickten in die Tiefen des Teichs. Auch das schützende Wasser war alt. Es roch nach Zeiten, die lange vor der Ankunft der Elfen zu Ende vergangen waren.
Nadjas Gruppe wanderte am Ufer entlang. Die sonst so plumpen Geschöpfe bewegten sich nun mit sanften, fast unhörbaren Schritten.
Von weiter oben dröhnten Stimmen herab; doch sie verloren sich in den Gewölben dieses untersten Teils des Zwergenreiches.
Eine Lücke inmitten der Schlafenden und Wachenden zog Nadja wie magisch an. Dort musste sie sich zur Ruhe betten und Kraft für die nächste Arbeitsschicht finden. Alebin würde sie treu entlohnen, und der Schatz würde weiter anwachsen, dieser glitzerglänzende Schatz, den sich die Links- und Rechtszwerge während der letzten Jahrhunderte erschuftet hatten.
Andachtsvolle Stille herrschte. Nadja fühlte sich wohl, und es würde ihr nur mithilfe eines rhythmischen Arbeitsliedes gelingen, sich von diesem Ort loszureißen. Sie würde es tun, weil sie wusste, dass sie immer wieder zurückkehren durfte, um zu sehen, um zu fühlen, um
Zwergenglück
zu erleben …
Benommen schüttelte sie den Kopf. Er fühlte sich bleiern an, die Gedanken wollten sich kaum noch in eine andere Richtung lenken lassen. Sie registrierte, dass sie
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