Thurner, M: Elfenzeit 18: Rache der Verbannten
Ausschau zu halten. Merlin hatte Spuren hinterlassen, sich jedoch nirgendwo, so schien es, länger als ein paar Tage oder Wochen aufgehalten. Wie ein unruhiger Geist trieb er sich umher, der stets auf der Suche und niemals zufrieden war. Viele Menschen hatten mit ihm gesprochen. Sie alle waren seltsamen Fragen ausgesetzt gewesen, die Alebin nur zu bekannt vorkamen. Merlin hatte Wegemarkierungen hinterlassen, und wenn ihm danach gewesen war, sogar seine heilkundigen Kräfte unter Beweis gestellt. Doch wann immer Alebins Boten hofften, dem Zauberer nahe zu kommen, löste er sich in Luft auf – um weit, weit entfernt wieder zu erscheinen.
Alebins Schmerz, der mit dem Verlust seines Schattens einherging, wurde von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr schlimmer. Schließlich traute sich der Elf kaum mehr vor die Tore seiner Bastion. Selbst die in diesem Landstrich so schwache Sonne schmerzte ihm in den Augen und am Körper. Er war ihren Strahlen schutzlos ausgeliefert – und er fühlte sich leer. Wertlos und jeglicher Bedeutung beraubt. Das Leben ging an ihm vorüber, ohne Spuren an und in ihm zu hinterlassen. Er war wie ein Gefäß ohne Boden; so viele Erfahrungen er auch in sich aufnahm … sie bewirkten nichts. Seine Persönlichkeit blieb unberührt. Ohne Schatten war er nicht mehr in der Lage, zu lernen und zu wachsen.
Die Verzweiflung brachte es mit sich, dass Alebin allmählich in alte Verhaltensmuster zurückfiel. Er vernachlässigte seine Pflichten; Land und Leute veränderten sich ebenfalls zum Schlechteren. Wie die Menschen gekommen waren, so verschwanden sie auch. Sie gingen verloren, versickerten in den endlosen Weiten der Wälder und Torfmoore.
Alebin begann wieder zu trinken. Er hurte umher, stahl und mordete, und er erging sich dabei in grenzenlosem Selbstmitleid. Wie er die höchsten Höhen menschlichen Verhaltens kennengelernt hatte, so fiel er nun tiefer, als je ein Lebewesen gestürzt war. Er wütete wie ein Besessener unter seinen Untergebenen und Leibeigenen, führte Krieg gegen die Bewohner benachbarter Gemeinden. Der Gewalt verfallene Geschöpfe, die kaum mehr als Tiere waren, ermöglichten ihm eine Schreckensherrschaft, die ihresgleichen suchte. Und der Elf ergötzte sich an Folterungen und monströsen Ritualen. Jedwede Menschlichkeit, die er sich anerzogen hatte, ging verloren. Sie folgte seinem Schatten in das Leben, das hinter ihm lag.
Das Land rings um die halb verfallene Burg verödete; wer immer dazu in der Lage war, flüchtete in den Süden der Großen Insel. Alebin zog hinterher. Er vagabundierte mit den Celtis durch die tiefen, noch unberührten Wälder südlich seiner Besitztümer, und er wurde Zeuge, als nahe einer breiten Flussmündung eine Ansiedlung entstand, die ursprünglich mit »Stadt der Eibenbäume« umschrieben wurde und sehr viel später den Namen »York« erhielt.
Alebin erlebte mit, wie sich die römischen Invasoren immer weiter ausbreiteten und alte, gewachsene Traditionen ebenso vernichteten, wie sie Kulturkreise zerstörten. Rücken an Rücken kämpfte er mit den römischen Usurpatoren, um irgendwann die Seiten zu wechseln und im Gefolge des icenischen Volkes die große Boudicca kennen- und schätzen zu lernen. Schattenlos trieb er dahin, stets gefürchtet und wenig geschätzt, und fand Eingang in vielerlei Legenden.
Eines Tages verließ er die Große Insel und wechselte auf den Kontinent. Die römischen Truppen befanden sich bereits auf dem Rückzug, und in das entstehende Machtvakuum drängten die Scharen zahlreicher Germanenvölker nach, die von einem Ort zum nächsten zogen. Sie plünderten und stahlen, bis sie sich irgendwo müde niederließen – und ihrerseits ausgeraubt wurden. Wann immer seinen Gefährten die Kraft verging, zog Alebin weiter. Er suchte das Vergessen im Kampf. Stets vorneweg ging er, um Menschen in Scharen niederzumetzeln. Weil es ihn von seinen Schmerzen ablenkte. Weil die Bilder, die er auf den Schlachtfeldern zu sehen bekam, zumindest eine bescheidene Reaktion in ihm hervorriefen und ihn an das Gefühl erinnerten, das auch er einstmals hatte genießen dürfen. Damals, als er noch einen Schatten besaß.
Wo immer er auf Elfen oder andere Wesen aus fremden Welten traf, mied er sie … wie auch sie ihm aus dem Weg gingen. Das Fehlen eines Schattens machte jedermann Angst. Alebin galt als gezeichnet, als Paria, den man gerne an seiner Seite sah, wenn es in den Kampf ging, mit dem man sich aber unter keinen Umständen einen feuchtfröhlichen Abend
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