Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
»Und es kann mir auch sicher nichts passieren?«
»So sicher, wie zweimal zwei vier ist«, beruhigte er sie. »Ich war vor einer Stunde im ›Wrack der
Hesperus
‹.«
»Wirklich? Und? Wie war’s?«
»Naß – und ich glaube, ich habe meine Jacke dort vergessen.«
»Die, die ich dir zu Weihnachten geschenkt habe?«
»Nein, die andere. Die blaue mit den großen Karos.«
»Das ist die, die ich dir zu Weihnachten geschenkt habe«, schimpfte Polly. »Wo hast du nur immer deine Gedanken? Was wolltest du noch gleich von mir?«
»Rühr dich nicht von der Stelle. Wenn alles gutgeht, brauche ich jetzt bloß noch auf den großen grünen Knopf zu drücken, und die Würmer öffnen dir die Tür zu William Wordsworths geliebten Narzissen.«
»Und wenn nicht alles gutgeht?« fragte Polly leicht nervös. Sie mußte jedesmal an Owens’ Ableben als riesiges Baiser denken, wenn sie sich ihrem Mann als Versuchskaninchen zur Verfügung stellte, doch abgesehen von leichten Versengungen beim Test eines butanbetriebenen Ein-Mann-Theaterpferdes hatten Mycrofts Maschinen ihr noch nie etwas zuleide getan.
»Hmm«, machte Mycroft nachdenklich, »es ist
möglich
, wenn auch höchst unwahrscheinlich, daß ich eine Kettenreaktion auslösen könnte, die zur Verschmelzung aller Materie und damit zur Auslöschung des gesamten Universums führt.«
»Im Ernst?«
»Ach, Unsinn. Kleiner Scherz am Rande. Alles klar?«
Polly lächelte. »Alles klar.«
Mycroft drückte den großen grünen Knopf, und das Buch fing an zu summen. Die Straßenlaternen vor dem Haus flackerten und drohten zu verlöschen, weil der Apparat eine unglaubliche Menge Strom brauchte, um die binometrischen Informationen der Bücherwürmer zu konvertieren. Plötzlich erhellte ein grelles Licht die Werkstatt, als habe sich eine Tür geöffnet, die aus tiefstem Winter in den Sommer führt. Staub glitzerte in dem dünnen Lichtstrahl, der allmählich immer breiter wurde.
»Du brauchst bloß hindurchzugehen!« Die Maschine machte einen solchen Lärm, daß Mycroft schreien mußte, um sich Gehör zu verschaffen. »Die Tür offenzuhalten kostet viel Strom; du mußt dich beeilen!«
Die ganze Atmosphäre stand unter Spannung; kleinere Gegenstände fingen an zu tanzen und knisterten vor Elektrizität.
Nervös lächelnd machte Polly einen Schritt auf die Tür zu. Die schimmernde Lichtfläche kräuselte sich, als sie die Hand hob und sie berührte. Polly holte tief Luft und trat durch das Portal. Ein greller Blitz, gefolgt von einer schweren Entladung; in der Nähe der Maschinen bildeten sich spontan zwei Blasen aus stark geladenem Gasplasma und stoben in entgegengesetzte Richtungen davon.
Mycroft mußte den Kopf einziehen, als die eine an ihm vorbeisegelte und am Rolls-Royce zerplatzte, ohne größeren Schaden anzurichten; die andere explodierte am Olfaktographen und verursachte ein kleines Feuer. Mit einem Mal erstarben Lärm und Licht, der Durchgang schloß sich, und die Straßenlaternen wurden flackernd wieder hell.
Wolken! Fröhlich sein! Lichter Tanz!
zischelten die Würmer überglücklich, während die Nadeln auf dem Deckel des Buches zitterten und zuckten und der zweiminütige Countdown bis zur neuerlichen Öffnung des Portals begann. Mycroft lächelte zufrieden und suchte in sämtlichen Taschen nach seiner Pfeife, bis er bestürzt erkennen mußte, daß er auch sie an Bord der Hesperus zurückgelassen hatte, und so setzte er sich auf den Prototyp eines Sarkasmus-Frühwarnmelders und wartete. Bis jetzt lief alles
bestens
.
Auf der anderen Seite des Prosa-Portals stand Polly am Ufer eines großen Sees und lauschte dem sanften Plätschern der Wellen. Die Sonne strahlte, und kleine weiße Wattewölkchen trieben träge über den azurblauen Himmel. Entlang der grasbewachsenen Bucht blühten Tausende und Abertausende gelber Narzissen im gesprenkelten Schatten eines Birkenhains. Ein leiser Windhauch, der den frischen Duft des Frühlings herüberwehte, ließ die Blüten flattern und tanzen.
Ein Gefühl des Friedens und der Ruhe durchströmte sie. Die Welt, die sie betreten hatte, war ein von des Menschen Tücke unbeflecktes Paradies.
»Wie schön!« seufzte sie, da ihre Gedanken endlich Worte gebaren.
»Diese Blumen, diese Farben, dieser Duft – es ist, als würde man Champagner atmen!«
»Gefällt es Ihnen, Madam?«
Vor ihr stand ein Mann um die achtzig. Er trug einen schwarzen Umhang, und ein schwaches Lächeln erhellte seine wettergegerbten Züge. Er blickte zu den Blumen
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