Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
hatte wahrhaben wollen: Mein Bruder hatte Scheiße gebaut.
So einfach war das, auch wenn im Abschlußbericht des Tribunals von »taktischen Fehlern im Eifer des Gefechts« und »menschlichem Versagen« die Rede war. »Scheiße gebaut« klang plausibler; wir alle machen ab und zu Fehler, der eine mehr, der andere weniger. Doch nur wenn so ein Fehler Menschenleben kostet, wird er auch bemerkt.
Wäre Anton Bäcker gewesen und hätte die Hefe vergessen, wäre das kaum der Rede wert gewesen. Mist gebaut hätte er trotzdem.
Während ich so dalag und vor mich hin grübelte, übermannte mich der Schlaf, und mit dem Schlaf kamen die bösen Träume. Ich war wieder in Styx’ Haus, nur stand ich diesmal am Hintereingang, neben mir der umgestürzte Wagen, Commander Flanker und der Rest der Untersuchungskommission. Auch Snood war da. Er hatte ein häßliches Loch in der Stirn und sah mich an, als warte er darauf, daß Flanker ihm sein Recht verschaffte.
»Sind Sie
sicher
, daß Sie Snood nicht angewiesen hatten, den Hintereingang zu bewachen?« wollte Flanker wissen.
»Hundertprozentig«, sagte ich und blickte von einem zum anderen.
»Gar nicht wahr«, sagte Acheron im Vorbeigehen. »Ich hab’s gehört.«
Flanker hielt ihn an. »Wirklich? Und was
genau
hat sie gesagt?«
Acheron bedachte mich mit einem Lächeln und nickte Snood freundlich zu.
»Haiti« fuhr ich dazwischen. »Wie können Sie ihm auch nur ein Wort glauben? Der Mann ist ein Lügner!«
Acheron schaute beleidigt drein, und Flanker drehte sich um und musterte mich mit stählernem Blick.
»Mit dieser Meinung stehen Sie ziemlich allein, Agent Next.«
Ich kochte innerlich vor Wut über diese schreiende Ungerechtigkeit.
Ich wollte eben losheulen und aufwachen, als mir jemand auf den Arm tippte. Es war ein Mann im schwarzen Gehrock. Er hatte dichtes schwarzes Haar, das ihm in dicken Strähnen in sein scharfgeschnittenes, strenges Gesicht fiel. Ich wußte sofort, wen ich vor mir hatte.
»Mr. Rochester?«
Er nickte. Doch nun standen wir nicht mehr vor den alten Lagerhäusern im East End; wir befanden uns in einem großen, geschmackvoll möblierten Zimmer, das von trübschimmernden Öllampen und dem Flackerschein eines prasselnden Kaminfeuers erhellt wurde.
»Wie geht es Ihrem Arm, Miss Next?«
»Danke, sehr gut«, sagte ich und wackelte wie zum Beweis mit den Fingern.
»Ich an Ihrer Stelle würde mir wegen dieser Herren keine Sorgen machen«, sagte er und deutete auf Flanker, Acheron und Snood, die in der Ecke neben dem Bücherregal standen und debattierten. »Sie existieren lediglich als Trugbilder in Ihrem Traum und spielen daher keine Rolle.
«
»Und Sie?«
Rochester lächelte, ein schroffes, gezwungenes Lächeln. Er lehnte sich gegen den Kaminsims und starrte in sein Glas, ließ den Madeira leise kreisen.
»Ich bin niemals echt gewesen.«
Er stellte das Glas auf den Marmorsims, zückte eine große, silberne Taschenuhr, klappte sie auf, sah auf das Zifferblatt und ließ sie wieder in seiner Westentasche verschwinden, alles in einer einzigen fließenden Bewegung. »Die Lage spitzt sich zu, das sagt mir mein Gefühl. Ich hoffe, ich kann auf Ihre Seelenstärke rechnen, wenn es soweit ist?«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Das kann ich Ihnen nicht erklären. Ich weiß nicht, wie ich hierhergelangt bin, ja nicht einmal, wie Sie zu mir gekommen sind. Erinnern Sie sich, wie Sie mir an jenem kalten Winterabend in den Weg liefen, als Sie noch ein kleines Mädchen waren?«
Natürlich wußte ich noch ganz genau, wie ich in Haworth House vor vielen Jahren
Jane Eyre
betreten und Rochesters Pferd zu Fall gebracht hatte.
»Das ist lange her.«
»Nicht für mich. Erinnern Sie sich?«
»Aber ja.«
»Ihr Eingreifen hat die Geschichte verbessert.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Vorher bin ich meiner Jane lediglich zufällig begegnet und habe ein paar Worte mit ihr gewechselt. Wenn Sie das Buch vor Ihrem Besuch gelesen hätten, würden Sie das sofort bemerkt haben. Daß das Pferd bei dem Versuch, Ihnen auszuweichen, ausrutschte und zu Fall kam, machte die Begegnung viel dramatischer, finden Sie nicht?«
»Aber war das denn nicht schon immer so?«
Rochester lächelte. »Ganz und gar nicht. Aber Sie waren keineswegs unser erster Besucher. Und auch nicht der letzte, wenn meine Vermutung stimmt.«
»Wie meinen Sie das?«
Er nahm sein Glas. »Da Sie gleich erwachen werden, Miss Next, sage ich Ihnen jetzt lieber Lebewohl. Noch einmal: Kann ich auf Ihre
Weitere Kostenlose Bücher