Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Sie öffnete die Augen wieder und stellte sich dem schrecklichen Gesicht des Schicksals.
Doch die Schwarze Pforte war nicht das Antlitz des Todes - lediglich ein astronomisches Phänomen, ein zu Anbeginn der Zeit entstandenes Loch im All, das ewig in sich zusammenstürzte. Das Herzstück dieser Einzigartigkeit lag irgendwo in einer anderen Realität, in einem endlosen Tag, den sie sich als den Himmel der Engel aller sterbenden Sonnen dieser Nacht vorstellte. Doch rings um dieses unbegreifliche Herz herum wurde das Gewebe des Raums vom Mahlstrom des Gravitationsschachtes von innen nach außen gekehrt. Zwischen der äußeren Realität des ihr bekannten Universums und der inneren des Herzens gab es eine Zone, wo die Unendlichkeit zugänglich war, wo Raum und Zeit die Polaritäten wechselten und es möglich war, sich dem Einfluß des Normalen Raum/Zeit-Gefüges zu entziehen. Dieses seltsame Limbo war von Wurmlöchern durchzogen, den Wunden, die noch von der Explosion der Geburt des Universums herrührten, und die von zahllosen sterbenden Sternen markiert wurden. Mit dem entsprechenden Wissen und der entsprechenden Technik konnte ein Sternenschiff gedankenschnell von einem Sektor des bekannten Universums in einen anderen überwechseln. - Sogar die Sternenschiffe des Alten Imperiums, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit bewegt hatten, hatten die Pforten benützt, da sie interstellare Entfernungen auch nicht direkt hatten bezwingen können. Und nun, da das seltene Element, das zum Bau dieser Sternenantriebe benötigt wurde, sich in einem Sonnensystem befand, das tausend Lichtjahre von Kharemough entfernt war, konnte kein Schiff diese Distanz in Wochen oder Monaten überwinden. Das würde erst dann wieder möglich sein, wenn das Schiff zurückkehrte, das Kharemough ausgeschickt hatte, um eben dieses Element zu holen, womit ein Neues Zeitalter eingeläutet werden würde.
Obwohl nur ein winziger Bruchteil der Strahlung des Schwarzen Lochs auf dem Bildschirm zu erkennen war, gelang ihr doch kein Blick ins innere Herz, denn wenn das Licht einmal in ein solches Loch stürzte, kam es nie mehr hervor. Der blendende Schimmer, den sie wahrnahm, war ein Bild, das am Rande der Wahrnehmung dieses Universums erstarrt war. Alle Reisen aller Dinge, die jemals in diese Pforte eingetreten waren - Schiffe, Staub, Leben -, waren dort, am Horizont der Zeit, zu einem roten Film verschmiert, zu einem Schrei der Verzweiflung, der über alle Bereiche des elektromagnetischen Spektrums schrillte, und der von Ewigkeit zu Ewigkeit hallte.
Sie wiederholte alles, was sie gelernt hatte, wie ein Gebet. Sie glaubte daran, daß die Sibyllen Träger universeller Wahrheiten waren, sie glaubte an die Fähigkeiten und die Weisheit des Alten Imperiums, sie glaubte, daß der Ort des Nichts nicht das Land des Todes war, sondern kaum erschreckender als das Innere einer Computerzentrale.
Man erwartete von ihr, daß sie das hier vollbrachte, und sie würde nicht versagen. Es gab keinen räumlichen oder zeitlichen Abgrund, der nicht überbrückt werden konnte, ebenso wie einen Abgrund des Mißverstehens und Glaubens, solange sie ihr Ziel nicht aus den Augen verlor. Sie heftete ihren Blick auf das Bild des Schirms und absorbierte es mit ihrem Bewußtsein. Dann sprach sie das eine Wort aus, das endlich wieder so vertraut/seltsam über ihre Lippen kam:
»Eingabe ...«
Dann stürzte sie in die Finsternis.
Keine weitere Analyse.
Der Ruf der Sibylle, das Ende des Transfers, erreichte sie nur weit entfernt, sie stieg mit goldenen Schwingen aus einem Schacht empor, an dessen anderem Ende undurchdringliche Finsternis war. Die Stimme fuhr fort, doch die Laute ergaben keinen Sinn, ein leiser, dünner, unverständlicher Ton. Sie führte die Hände an die Lippen und drückte - und erst in der Bewegung wurde ihr bewußt, daß sie sich überhaupt bewegen konnte - gegen ihr Gesicht, verblüfft von dem Gefühl und der Stille. Mit dem Gefühl kam auch die plötzliche Erkenntnis seiner Intensität, Muskeln und während der Reise belastetes Gewebe schien rotglühend zu sein ... während der Reise. Der Transfer war zu Ende. Zu Ende!
Sie öffnete die Augen, die förmlich nach Licht, Helligkeit und Wahrnehmung dürsteten. Und das Licht belohnte sie mit einem Crescendo von Helligkeit und drang auf ihre Netzhäute ein, bis sie vor Freude und Schmerz aufschrie. Sie blinzelte zwischen den Fingern hindurch, die tränenfeucht waren, und sah Silkys Gesicht wie in einem angelaufenen
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