Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
in ihrem Anzug. »Silky!« Sie schrie seinen Namen, doch er wurde vom Wind mitgerissen, so einsam und verlassen wie der Ruf eines Mers.
Und dann tauchten Silkys Gesicht und sein schuppiger Körper unerwartet neben ihr auf und unterstützte sie bei ihren Bemühungen, nicht unterzugehen, während ihr wassergefüllter Druckanzug sie in die Tiefe zog. Er selbst hatte seinen Anzug abgelegt und bewegte sich frei in seinem Element. Sie spürte, wie er am Reißverschluß ihres Anzugs zog, um ihn zu öffnen.
»Nein!« Sie umklammerte seine schlüpfrigen Tentakel, doch er entwand sie ihr geschickt. »Nein. Ich werde erfrieren!« Ihr Zappeln ließ sie untertauchen, sie kam spuckend und hustend wieder hoch. »Ich kann hier nicht ohne ihn überleben!« Doch sie wußte, daß sie auch mit ihm nicht überleben würde, denn der Anzug war voller flüssigem Ballast, der sie in die Tiefe zog. Plötzlich verstand sie die tragische Ironie in der Wahl des Matrosen, wie man nur manchmal im Leben etwas begreifen lernt: die Wahl, zu ertrinken oder zu erfrieren.
Silky ließ ihren Anzug in Ruhe, er bemühte sich lediglich, sie bei ihren Schwimmbewegungen zu unterstützen. Der erste, unerträgliche Kälteschock war ihr bereits schmerzhaft durch Mark und Bein gedrungen und entzog ihr den Lebenswillen und ihre Urteilsfähigkeit. In einiger Entfernung konnte sie zwischen den ruhelosen, silbernen Dünen einen Augenblick das LB sehen - und dann auf einmal nichts mehr, nur noch Wasser und Himmel.
Elsevier.
Ein Opfer für das Meer ... Mond spürte, wie sich das Salz ihres Kummers mit dem des Meeres vermengte.
Nach einer unbestimmbaren Zeitspanne merkte sie, daß der Guß nachließ: der Himmel trocknete seine Tränen und dämpfte seinen Zorn, das Antlitz des Meeres wirkte nicht mehr so geschwollen, Erschöpfung brachte auch ihren Tränenstrom zum Versiegen, eine kalte, ferne Sonne, betrachtete sie durch die aufbrechenden Wolken. Silky hielt sie immer noch fest und half ihr, über Wasser zu bleiben. Ihr Körper wurde von einem unkontrollierbaren Zittern durchgeschüttelt. Manchmal glaubte sie, in unerreichbarer Ferne die Küste zu sehen, doch sie war nie ganz sicher, ob ihr nicht der Nebel oder gar ihr eigener Verstand ein Phantombild vorgaukelten. Sie hatte keine Kraft zum Sprechen mehr, und Silky sprach nur durch die wortlose Beruhigung seiner Gegenwart. Sie spürte seine Fremdartigkeit mehr als jemals zuvor, spürte aber auch, daß das völlig unbedeutend war .. .
Sie wollte ihm sagen, daß er sie loslassen konnte, um mit seinen Kräften zu haushalten, denn es bestand keine Hoffnung, daß Ngenet sie hier beizeiten finden würde. Aber im Endeffekt würde es doch auf dasselbe hinauslaufen. Aber sie konnte die Worte nicht formen, und wußte auch tief in ihrem Herzen, daß sie es gar nicht wollte. Allein zu sterben ... zu sterben ... ewig hier zu schlafen. Sie glaubte zu spüren, wie das Mark in ihren Knochen gefror. Sie war so müde, so unglaublich erschöpft, und, in der endlosen Wiege der Mutter geschaukelt, würde der Schlaf bald kommen. Die Herrin erschuf und zerstörte zugleich und plötzlich erkannte sie verzweifelt, daß das Leben eines Mannes oder einer Frau in ihrem weitgespannten Muster nicht bedeutender war als das des unbedeutendsten Schalentiers, das im Uferschlamm wühlte .. .
Etwas brach vor ihnen zur Wasseroberfläche durch und sprühte kalte Tropfen in Monds Gesicht. Sie stöhnte, als Silky die Arme enger um ihre Brust schlang, dann betrachtete sie mit Eisaugen das faltige, unmenschliche Gesicht, das sie musterte. Hinter dem ersten wurden zwei, dann drei ähnliche Gesichter sichtbar, die wie Bojen auf der schimmernden Wasseroberfläche lagen. Langsam, wie eine Luftblase aus großer Tiefe, überkam die Erkenntnis sie und stieg empor, um in ihren betäubten Verstand einzudringen:
Mers ...
Sie umringten sie und betasteten sie dringlich und drängend mit ihren Vorderflossen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was sie von ihr wollten, doch sie wußte mit dem felsenfesten Vertrauen ihrer Kindheit, daß das die Kinder der Meeresmutter waren, die gekommen waren, um sie zu retten, wenn sie konnten. »Silky«, sie zerkaute das Wort zwischen ihren klappernden Zähnen, »Laß mich l-los!«
Er lockerte seinen Griff, sie sank wie ein Stein unter die Oberfläche. Doch bevor sie untergehen konnte, holten die schlanken Gestalten sie wieder zurück. Finger mit Schwimmhäuten umklammerten sie wie die Blätter einer sich schließenden Blüte, und
Weitere Kostenlose Bücher