Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
hoben sie in die Höhe, drehten sie auf den Bauch und legten sie dann auf die weiche, breite Brust eines Mers, der im Wasser wartete. Dort blieb sie vor Kälte schnatternd und verblüfft liegen, gerade über der Wasseroberfläche, nur ihre Füße hingen noch in das kalte Naß. Doch der Mer - es war ein Weibchen, wie sie an dem goldenen Pelzstreifen im Nacken erkennen konnte - trug sie sicher in den Flossen und wärmte ihren Körper wie sie ihr eigenes Junges gewärmt haben würde. Sie begann ein tiefes, tonloses Heulen im Rhythmus der Wogen. Zu erschöpft, um sich zu wundern, lag Mond auf der silbernen Brust, stützte sich mit den Händen ab und spürte, wie das tonlose Lied in ihren Körper eindrang. Silky und zwei der Mers schwammen immer noch in der Nähe, aber sie erinnerte sich nicht mehr an sie, sie erinnerte sich an überhaupt nichts mehr, weder an Vergangenes noch Zukünftiges, ihre Existenz blieb rein auf den Augenblick beschränkt.
Sie erfuhr niemals, wie lange sie in der Umarmung des Mers dahintrieb, wieviel Zeit in der äußeren Welt verstrich, und hatte auch selten ein Verlangen danach, es zu erfahren. Die Sonne war über den Himmel gewandert und eilte ihrem Rendezvous mit dem Meer entgegen, bevor die Wasseroberfläche sich erneut veränderte: der Schatten eines Schiffes streckte sich ihnen grüßend entgegen, der ferne Herzschlag seiner Maschinen störte die Stille immer aufdringlicher.
»Mond, Mond. Mond.« Silky nannte ihren Namen und grif mit nassen Tentakeln in ihren Nacken, damit sie zuhören sollte.
Aber es gab keinen Mond mehr, auch keinen Mond am Himmel, nur noch das Meer, das ihm antworten konnte ... nur noch das Meer, die Herrin, die ihr Recht forderte.
»Mond ... kannst du mich hören?«
»Nein ... « Es war mehr ein Protest gegen die Störung ihres gedankenlosen Friedens als die Antwort auf eine Frage. Die Welt war ein formlos fließendes Aquarellgemälde .. .
Etwas preßte ihre Lippen gegen ihre klappernden Zähne, ein heiße, zähe Flüssigkeit rann wie flammendes Öl ihre Kehle hinab. Sie wimmerte vor Freude und Ablehnung zugleich, die Wasserfarbenwelt zerfloß und nahm eine Form an, die keinerlei Bezug zu ihren vagen Erinnerungen hatte – mit Ausnahme des Gesichts, das über ihr schwebte und Vergangenheit und Gegen- wart zu einem Doppelbild verschmolz. »M-M-Miroe?«
»Ja«, mit grenzenloser Erleichterung. »Sie kehrt zu uns zurück, Silky. Sie erkennt mich.« Hinter ihm konnte sie nun Silky erkennen, der geduldig zusammengekauert wartete, neben ihm das runde Loch eines Bullauges.
»W-wo?« Sie schluckte die süß-beißende Flüssigkeit mit konvulsivischen Zügen, als Ngenet die Tasse erneut gegen ihre Lippen preßte. Ihr zitternder, durchweichter Körper war von dem Druckanzug befreit und in Decken gehüllt.
»Auf meinem Schiff. Dank der Götter endlich sicher an Bord. Wir fahren heim.« Er legte ihr einen heißen Umschlag über Nase und Wangen.
»H-heim ...?« Wieder flossen Vergangenheit und Zukunft zusammen.
»Zu meiner Plantage, in einen sicheren Hafen. Du hast genügend Zeit auf den Sternenpfaden und im Schoß der Meeresmutter zugebracht, Merkind ... fast ein ganzes Leben. Wird Zeit, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.« Er strich ihr mit einer zärtlichen Bewegung das nasse Haar aus der Stirn.
»El-Elsie ...« Das Wort verletzte ihre Kehle wie eine Raspel.
»Ich weiß.« Ngenet erhob sich von der Kante der Koje. »Ich weiß. Aber du kannst nichts für sie tun, nur hier liegen und wieder gesund werden.« Dann verblaßte seine Stimme, und die Kabine und er waren auf einmal unendlich weit entfernt.
Mond kuschelte sich tiefer in das Lager aus Decken, während ihre Wahrnehmung sich nach innen konzentrierte und das Gefühl tausender glühender Nadeln ignorierte, die sich in ihr kaltes, lebloses Fleisch zu bohren schienen, um gefrorene Venen zu öffnen, ihre Muskeln zu lösen und sie zu befreien ...
28
Jerusha ließ die Räume ihres Stadthauses hinter sich, Brot und Früchte ihrer Abendmahlzeit blieben halb gegessen auf dem Fisch stehen, und begab sich hinab ins Labyrinth. Das Dämmerlicht am Ende der Alleen, hinter den Wällen, markierte das Ende eines weiteren, unerträglichen Tages, den sie irgendwie hinter sich gebracht hatte – gleichzeitig aber das Versprechen auf einen neuen, den sie morgen würde erdulden müssen, dann noch einen, und noch einen. Ihre Arbeit war ihr Leben gewesen, aber nun war ihr Leben zur Hölle geworden. Der Schlaf
Weitere Kostenlose Bücher