Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Sandburg ihrer Selbstbeherrschung dahinrollte. »Ach, sei
still,
du verrückter alter ... « Doch sie beendete den Satz nur flüsternd, ihre Stimme bebte vor unterdrückter Frustration, denn sie hätte die Worte am liebsten hinausgeschrien. Gran sah zu ihr herüber, und Sympathie glättete die harten Kanten ihres wettergegerbten Gesichts. Mond sah beschämt weg, da sie Reue empfand, während sie gleichzeitig bereute, sich schämen zu müssen. Eine Sibylle sagte so etwas nicht. Eine Sibylle war Wissen und Weisheit und Geduld. Sie runzelte die Stirn.
Ich bin noch keine Sibylle.
»Wir müssen die Bösen unter uns verstoßen und ihre Götzen ins Meer werfen.«
Daft Naimy riß die Arme empor und drohte mir geballten Fäusten zum Himmel. Sie sah zu, wie seine zerlumpten Ärmel hinabglitten. Um ihn herum bellten und heulten die Hunde, die sich aber wohlweislich von ihm fernhielten. Er nannte sich selbst den Sommerpropheten, und er zog übers Meer, von Insel zu Insel, und predigte das Wort der Herrin, wie er es mit seinem vom Wahnsinn getrübten Verstand vernahm. Als Kind hatte sie sich vor ihm gefürchtet, bis ihre Mutter ihr gesagt hatte, es zu lassen, dann hatte sie über ihn gelacht, bis ihre Großmutter ihr gesagt hatte, es zu lassen, schließlich hatte sie seinetwegen Verlegenheit empfunden, bis Alter und zunehmende Reife sie gelehrt hatten, ihn zu verstehen und zu tolerieren. Heute allerdings war ihre Toleranz schon über alle Maßen strapaziert ...
und ich bin immer noch keine Sibylle!
Sie hatte gehört, daß Daft Naimy als Wintermann geboren worden war. Sie hatte gehört, daß auch er einst ein technikbesessener Ungläubiger gewesen war – und daß er sich gegen die Naturgesetze vergangen hatte, indem er das Blut einer Sibylle vergossen hatte. Daher war er zur Strafe von der Herrin wahnsinnig gemacht worden, und so büßte er seine Strafe ab. Das Kleeblattsymbol, das alle Sibyllen trugen, war eine Warnung vor Befleckung, vor einer Schändung auf heiliger Erde. Sie sagten, es bedeutet Tod, eine Sibylle zu töten, Tod, eine Sibylle zu lieben, und Tod, eine Sibylle zu sein ... und sie meinten damit einen lebenden Tod.
Tod, eine Sibylle zu töten .. .
»Dort ist der Sünder, der falsche Götter verehrt! Schaut ihn euch an!«
Seine knorrige Hand schnellte wie ein anklagender Pfeil in die Höhe.
Funke hob das Gesicht, während er über die Leiter der Gangway zum Pier hochkletterte. Sein Gesicht wurde von einer haßerfüllten Entschlossenheit verzerrt, als er zuerst den alten Mann, dann sie selbst ansah.
Tod, eine Sibylle zu lieben . .
Mond schüttelte verleugnend den Kopf, womit sie eine weitere unausgesprochene Anklage beantwortete. Aber er hatte den Blick schon wieder von ihr abgewendet und sah statt dessen zu Gran, und mit diesem Blick zeigte er ihr alles, was sie einst geliebt hatte und was sie nun verlor. Jetzt endlich verstand sie, was sie meinten, wenn sie sagten, es bedeutete den
Tod, eine Sibylle zu sein.
»Aber ich bin noch keine Sibylle.« Das Flüstern brach sich an ihren Zähnen.
Jemand rief Funke von unten etwas zu, und er antwortete, bevor er auf sie zukam, groß und bleich und zielstrebig. Die Flut ging zurück, das Wasser der Bucht war weit unter den Pier gesunken. Von hier aus konnte sie lediglich die Mastspitze des Wintervolkschiffes sehen, das ihn wegbringen würde, die wie ein ausgestreckter Finger aufragte. »Ich schätze, das war's dann. Meine Sachen sind alle an Bord. Sie sind bereit, loszusegeln.« Als er vor ihnen stand, blickte er verlegen auf seine Füße. Er wandte sich lediglich an Gran. »Schätze, ich ... schätze, ich sag jetzt Auf Wiedersehen.«
»Bereitet euch auf das Ende vor!«
»Funke .. .« Gran hob die Hand und streichelte seine Wange. »Mußt du jetzt schon gehen? Möchtest du nicht wenigstens- warten, bis deine Tante Lelark wieder zurück ist?«
»Das kann ich nicht.« Er schüttelte ihre Hand ab. »Das kann ich nicht. Ich muß jetzt gehen. Ich meine, es ist schließlich nicht für immer und ewig ... « Es klang, als fürchtete er, morgen könnte leicht zur Ewigkeit werden, bliebe er auch nur noch einen Tag länger.
»Oh, mein liebes Kind ... meine lieben Kinder.« Sie streckte ungeschickt den anderen Arm aus und zog sie beide an sich, wie sie es schon so lange nicht mehr getan hatte, daß keiner sich mehr daran erinnern konnte. »Was soll ich nur ohne euch anfangen? Ihr wart mein einziger Trost, seit euer Großvater starb ... Muß ich euch nun verlieren, und
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