Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin

daß er kaum die Arme beugen konnte, und doch ging ihm der Nordwind durch Mark und Bein. Karbunkel selbst wurde nur von einer warmen Meeresströmung, die der Westküste folgte, davor bewahrt, völlig unter Eis begraben zu werden. Er hatte keinerlei Gefühl mehr im Gesicht, konnte daher auch nicht sagen, ob sein eigenes Lächeln gelang oder nicht. »Bei der Herrin, das ist ja ein echtes Wunder! Wer hätte sich denn so etwas vorstellen können!«
    »Deine Herrin hat damit nichts zu tun, Junge. Und Sie hatte auch noch niemals etwas mit den Menschen zu tun, die hier leben. Vergiß das nie, solange du da bist!« Der Händler betrachtete kopfschüttelnd die Stadt, dann preßte er die Lippen zu dünnen Strichen zusammen. »Nein ... niemand weiß wirklich, wie Karbunkel entstand. Oder warum. Nicht einmal die Außenweltler – glaub ich wenigstens, aber das sagen sie uns natürlich nicht, selbst wenn's stimmen würde.«
    »Warum nicht?« Funke sah sich um.
    Der Händler zuckte die Achseln. »Warum sollten sie uns ihre Geheimnisse verraten? Sie sind hier, um ihre Maschinen gegen das, was wir zu bieten haben, einzutauschen. Wenn wir unsere eigenen herstellen könnten, bräuchten wir sie nicht.«
    »Schätze nicht.« Funke zuckte die Achseln und bewegte die Finger, soweit seine Handschuhe das zuließen. Der Winterhändler und seine Mannschaft aßen, schliefen oder sprachen vom Geschäft; das alles hatte sich schon recht bald verschlissen gehabt. Bisher hatte ihn nur eine einzige Tatsache während dieser langen und eintönigen Reise beeindruckt, nämlich daß die Händler ebenso frei mit Sommer- wie Wintervolk handelten, als existierten die Unterschiede zwischen beiden überhaupt eicht. »Wo sind denn die Sternenschiffe?«
    »Die
was?«
Der Händler wurde von einem Lachanfall geschüttelt. »Jetzt erzähl mir bloß nicht, du hättest einen Himmel voller schiffe erwartet! Bei allen Göttern! Dachtest du etwa, hier wäre für jeden Stern eines? Und das nach den ganzen Techgeschichten, die du mir im Lauf der Jahre wie Würmer aus der Nase gezogen hast. Ihr Sommervolk scheint wirklich so dickschädelig zu sein, wie jeder behauptet!«
    »Nein!« Funke runzelte die Stirn, und sein Gesicht brannte vor Verlegenheit. »Ich ... ich wollte nur wissen, wo der Sternenhafen ist, das ist alles.«
    »Na klar«, prustete der Händler. »Der ist landeinwärts und für uns verbotenes Gebiet.« Plötzlich wurde er wieder ernst. »Bist du ganz sicher, daß du weißt, was du tust, Funke, der nach Karbunkel geht? Verstehst du eigentlich, auf was du dich eingelassen hast?«
    Funke zögerte und betrachtete die Wasseroberfläche. Monds Gesicht beim Abschied ließ das Meer verschwimmen, er hörte ihre Stimme im Kreischen der Seemöwen in der Luft.
Tod, eine Sibylle zu lieben.
Plötzlich loderte kalter Schmerz in seiner Brust empor wie eine Eislawine. Er schloß zitternd die Augen, doch da war die Vision schon vorbei. »Ich weiß, was ich tue.«
    Der Händler wandte sich achselzuckend ab.
     
    Das Schiff des Händlers hatte am Pier angelegt, wo Funke nun stand und es im dunklen, ruhigen Wasser betrachtete. Zu allen Seiten lagen größere, breitere und längere Schiffe vor Anker, die es zum Zwerg stempelten, und dabei selbst von der gewaltigen Ausdehnung des Liegeplatzes zu Zwergen gemacht wurden. Und über allem, wieder alles zur Bedeutungslosigkeit reduzierend, ragte die Stadt Karbunkel wie ein zusammengekauertes und lauerndes Tier auf. Säulen, in denen ganze Wohnhäuser Platz gefunden hätten, ragten vom Meer empor wie ein seltsamer Wald, der vom Unterleib der Stadt gekrönt wurde, daneben gab es riesige Ketten und Streben und unverständliche Verankerungen. Der Geruch des Meeres vermengte sich mit seltsameren, bisweilen weniger einladenden Gerüchen, während von der Unterseite der Stadt undefinierbare Ausflüsse herabrannen und -tropften. Ein breiter Pfad, auf dem sich die seltsamsten Geschöpfe tummelten, führte direkt von den Schwebedocks des künstlichen Hafens in den hungrigen Magen der Stadt ... Plötzlich dachte er an ein wartendes, hungriges Tier.
    »Bleib in den unteren Etagen, Junge!« Der Händler mußte brüllen, damit man ihn durch das Gebrüll dutzender anderer überhaupt verstehen konnte, deren Grunzen und Schreien und Ächzen die Geräuschkulisse dieser seltsamen Unterwelt zwischen Land und Meer bildete. »Halt nach Gadderfys Haus in der Halbwinkelallee Ausschau. Sie wird dir ein Zimmer vermieten!«
    Funke nickte abwesend und hob die